Ganze Straßenzüge ohne Wähler

Von Robertodelapuente @adsinistram
Die erste Kommunalwahl in Ingolstadt, die ich aus der Ferne beobachte. Die Wahlbeteiligung ist weiter abgesackt. Vor sechs Jahren gingen noch knapp 48 Prozent aller Wahlberechtigten zur Wahl. Diesmal lag die Wahlbeteiligung bei 42 Prozent. Ingolstadt - »Boomtown«, wie man es auch nennt - ist ein Musterbeispiel für die schlechte demokratische Verfassung, in der deutsche Großstädte sind.
Ich spare es mir an dieser Stelle zu erwähnen, dass der neue Oberbürgermeister seine absolute Mehrheit auf 22 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten gebaut hat. Das ist leider mittlerweile so normal, dass es schon gar nicht mehr spaßig ist, es zur Sprache zu bringen. Ich will auf etwas anderes hinaus: Schon bei der letzten Kommunalwahl brachte es das Nordwest-Viertel, das Banlieu der Stadt, in dem es viele Hartz IV-Bezieher und Niedriglöhner gibt, in dem dementsprechend das Lohnniveau geringer und die Lebensqualität schlechter ist, auf nicht mal 31 Prozent Wahlbeteiligung. In manchen Stimmbezirken gingen dieses Jahr sogar nur 15 bis 25 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne. Es muss geradezu ganze Straßenzüge ohne Wähler gegeben haben.

Nichtwähler gehören laut »Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung« verhältnismäßig oft den unteren Schichten an, verdienen weniger als Menschen aus der Mittelschicht und haben einen niedrigeren Schulabschluss. Die Wahlbereitschaft sank zwar in den letzten Jahren in allen gesellschaftlichen Gruppen. Im Prekariat sank sie allerdings besonders stark. Fast 60 Prozent der Nichtwähler kommen aus den zwei unteren Fünfteln der Einkommensstatistik. In Ingolstadt zeichnet sich dieser Trend ganz eklatant ab.
Politiker und Wahlkämpfer wirken in diesen marginalisierten Gegenden wie Parallelgesellschafter, die etwas von Werten und Vorstellungen predigen, die die dort lebenden Menschen gar nicht mehr kennen. Die haben jeden Glauben an ein System verloren, in dem sie immer die Verlierer und Benachteiligten sind. Wer sich nach einer solchen Wahl hinstellt und das mangelnde Interesse bestimmter Gesellschaftsschichten in puncto Politik kritisiert, macht es sich zu einfach. Hat nicht verstanden, dass es Schichten gibt, die längst jede Illusion aufgegeben haben. Die Resignation ist dort längst Lebensgefühl geworden. Dort weiß man aus leidvoller Erfahrung, dass Armut keine Wahl hat.
Natürlich ist eine Kommunalwahl keine Wahl, bei der man die Richtung der gesamten Politik mitbestimmen kann. Kommunen sind ja eher mit Verantwortungen zugeschissen worden, die sie kaum noch stemmen können. Aber die Leute sehen oft gar keinen Unterschied zwischen den jeweiligen Wahlen. Und es ist ja auch nicht so, dass die Spezlwirtschaft, die in Kommunen herrscht und die bei Kommunalwahlen um eine Neuverteilung der regionalen Pfründe buhlt, den Leuten in diesen Randbezirken der Gesellschaft nicht übel aufstoßen würden. Sie sehen, wie sich alteingesessene Familien und filzige Parteiapparate bevorteilen, während ihr Stadtteil ein Moloch bleibt, in dem aller Stadtverkehr durchgelotst wird und in dem es wenig Arbeit und noch weniger Aufstiegschancen gibt.
Kaum eine Stadt in Deutschland wächst so schnell wie die Donaumetropole. Wahrscheinlich sind die Schattenseiten, die sich an der Ausgrenzung ganzer Stadtteile bemerkbar machen, normale Erscheinungen moderner Städte in Zeiten der Entsolidarisierung und Entpartizipierung. Besonders wenn sie expandieren und allerlei Personalservice und Segemente für den Niedriglohnsektor anziehen. »Boomtown«? Vielleicht. Aber was Partizipation und Mitsprache betrifft, da boomt gar nichts.
Ingolstadt ist bundesweit gesehen durchaus ein treffliches Beispiel einer Stadt, in der es von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt alles gibt. Auch wenn ich jetzt schon die Stimmen höre, dass es genau so nicht sei, man bemühe sich wirklich. Tut man das? Wieviele der Gesichter, die man ankreuzen konnte, kennen Stadtteile wie das Pius-Viertel? Und wer von denen kennt die Straßenambulanz und die Menschen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben? Die Kandidatin der Sozialdemokraten, letztlich auch eine Unternehmerin, weiß jedenfalls wenig von den Nöten vieler Menschen. Sie wird nichts davon wissen, wie es ist, schon zu Monatsmitte keine Flocken mehr in der Tasche zu haben. Vom CSU-Kandidaten ganz zu schweigen.
Die städtischen Sozis haben viel von Wechselstimmung in den »Donaukurier« hineindiktiert. Welcher Wechsel wäre das gewesen? Was hätten die Leute in den Banlieus davon gehabt? Inwiefern wäre es denn überhaupt denkbar, dass verkrustete Strukturen wie jene, die nach Jahrzehnten schwarzer Regentschaft entstanden sind, aufgelöst werden könnten? Und wollte man das eigentlich? Man bräuchte doch die städtischen Funktionseliten. Und gegen den Filz anregieren kann man auch nicht. Aber gut, das ist eine andere Geschichte, das führt jetzt zu weit.
Ich kannte jedenfalls einiges aus dem dortigen Schattenreich. Denn dort habe ich gelebt. Die Arroganz des politischen Betriebes in Ingolstadt, macht mich noch aus der Ferne wütend. Es ist immer noch dieselbe oberbayerische Selbstzufriedenheit, die mich damals schon anwiderte. Das ändert sich nie.
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