Unerwartet an diesem Abend war ein langanhaltender Applaus, noch vor Konzertbeginn, den Noch-Vizekanzler Mitterlehner vom Publikum erhielt, nachdem er kurz vom Chef des Hauses, Matthias Naske, begrüßt worden war. Just in den selben Minuten trat Sebastian Kurz vor die Kameras, um den Zusehenden seine eigenen ÖVP-Pläne vorzustellen. Alle, die diese unerwartete Ovation erlebten, nahmen dies als ein höchst emotionales Ereignis wahr, das in diesem Moment – zumindest gefühlt – mehr dem Menschen Mitterlehner als dem Vizekanzler und Parteivorsitzenden der ÖVP galt.
Ein „best of“ von „Má vlast“
Am Beginn der musikalischen Darbietung standen die drei Sätze Vyšehrad, Z českých luhů a hájů (Aus Böhmens Hain und Flur) sowie Vltava (Die Moldau) aus den insgesamt 6 symphonischen Dichtungen von „Má vlast“ (Mein Vaterland) von Bedřich (Friedrich) Smetana. Sozusagen das „best of“. Mit den darin behandelten Themengebiete Mythen, Landschaften und Geschichte seiner tschechischen Heimat schuf er ein Werk, das zu den meist gespielten in den Konzertsälen der Welt gehört.
Daniel Barenboim leitete dabei das Orchester am Anfang herrlich unaufgeregt, ließ ihm größtmögliche Freiheiten und erlaubte dabei seiner linken Hand so manchen tänzerischen Ausflug. Wellenbewegungen, Geflattere aber auch wuchtige Einsätze mit durchschlagender Stoßkraft seiner Rechten waren da zu erkennen. Die Philharmoniker sind in ihrer Spielweise sicher genug, dass es bei häufig gespielten Werken keiner großen Eingriffe oder eines aufgesetzten Dirigentengehabes bedarf. Das weiß Barenboim nur zu genau und reagierte dementsprechend respektvoll.
Boulez gleich im Eröffnungskonzert
Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim – Wiener Konzerthaus Foto: Lukas BeckDie „Notations“ von Pierre Boulez waren ursprünglich 12 sehr kurze Stücke, für Klavier verfasst. Einige von ihnen wurden erst Jahrzehnte später über mehrere Jahre zu Orchesterfassungen verändert. Die meiste Zeit verbrachte Boulez mit diesen Neukompositionen während seines Dirigates des Chéreau-Ringes zwischen 1976 und 1980 in Bayreuth. Die Nr. I – IV gelangten unter Barenboim 1980 mit dem Orchéstre de Paris zu ihrer Uraufführung. Das zeigt gut, wie hoch die Boulez´sche Klangtreue bei diesem Eröffnungskonzert in Wien zu beurteilen ist. Entgegen der Klavierfassung wählte der Komponist bei der Um- und Ausarbeitung für Orchester keine strenge Zwölftontechnik, was dazu führte, dass die einzelnen Sätze mit unterschiedlichen, sinnlichen Klangphänomenen aufwarten. Barenboim wählte die Nr. I, III, IV, VII – und zum Schluss erst die Nr. II aus, und folgte damit einem Vorschlag des Komponisten selbst. Mit gutem Grund.
Die Nummer eins beginnt mit zarten Flöten- und Harfentönen und kippt bald in eine dunkle Klangfarbe. Laut und intensiv bleibt das spannungsgeladene, musikalische Geschehen, das sich von ungeniert bis flapsig präsentiert, um schließlich in einem Pianissimo zu enden. Die anschließend gespielte Nr. III beginnt mit einem kleinen Motiv, das durch das gesamte Orchester wandert, wobei die Streicher bald den Raum füllen und das Motiv gehörig ausdehnen. Glockentöne leiten schließlich eine Ballung des Klanges ein, die Dramatik nimmt allgemein zu und steigert sich zu einem gewaltigen Fortissimo, um danach in tröpfelnden Geigen zur Ruhe zu kommen. Unheimlich und dunkel bleibt das weitere Geschehen, unterstützt durch tiefe Bläser mit immer wieder aufblitzendem Glockenspiel und Beckenklängen. Die Stimmung dieses Satzes bleibt angsterfüllt bis zum Ende, das langsam ausklingt und verebbt.
Höchste Aufmerksamkeit gegenüber einer drohenden Gefahr ist, was die Notations Nr. 4 gleich von Beginn an ausdrücken. Dabei halten die Streicher einen permanenten, aufgeregten Grundtonus, der durch ansteigende Sequenzen von hölzernen Xylophontönen begleitet wird und nach einem gewaltigen Unisono abrupt endet.
Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim – Wiener Konzerthaus Foto: Lukas BeckDie Grundhaltung der Notations Nr. VII ist, verglichen mit den vorangegangenen, eine andere. Wesentlich länger präsentiert sich dieses verhaltene Stück, in dem ein schleppender Rhythmus, durch dunkle Pauken unterstützt, das Hauptcharakteristikum darstellt. Immer wieder scheint man kleine Geigenmelodien durchzuhören, die sich jedoch schon nach wenigen Noten verflüchtigen. Immer wiederkehrende Ballungen, in denen sich Bläserstimmen exponieren, bestimmen das Geschehen und schließlich sind es auch Bläser, die das Stück im Pianissimo ausklingen lassen.
Mit harten Trommelschlägen und tiefen, unbarmherzigen Bläsern beginnen die II. Notations, die den Schlusssatz bilden. Ein allgemeines Rasen, eine Aufgeregtheit setzt ein, die sich von den Perkussionsinstrumenten bis über das Klavier, die Bläser und die Streicher erstreckt. Eine wilde Hetzjagd, die rhythmisch, aber auch aufgrund des eingesetzten Percussionsapparates, an Leonard Bernsteins West Side Story erinnert, endet schließlich in einem abrupten, beinahe schon gewalttätigen Schluss. Keine Sekunde später rief Barenboim, überwältigt von der Leistung, seinem Orchester ein „Bravo“ zu. Das enthusiastische Publikum erhielt diesen Satz schließlich noch als Zugabe – mit noch größerer Dynamik und Intensität gespielt als zuvor.
Das Konzert der Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim war ein glanzvoller Auftakt zum Internationalen Musikfest im Konzerthaus, in dem sich hochkarätig besetzte Konzerte aneinanderreihen. Dass Pierre Boulez darin ein Schwerpunkt gewidmet ist, macht das Fest doppelt attraktiv.
38. Internationales Musikfest auf der Website des Konzerthauses.