Gallié & Andreae: Die Bruderschaft der Krabbe [Splitter] - Perramus revisited.

Von Derdigitaleflaneur

Ich werde häufiger gefragt, welches Element des Comics für mich bedeutsamer ist, ob nun die grafische oder die erzählerische Dimension. Bei einem hybriden Medium kann man dies nicht einfach oder gar trennscharf unterteilen. Der Comic hat eine etwas sonderbare Dynamik, ein mittelmäßig gut erzählter Plot kann durch eine geschickte assoziative Bildgestaltung nur gewinnen und umgekehrt kann sich hinter brillanten Bilderwelten ein erbärmlich unausgegorenes Storyboard verbergen.
Spitzzüngige Spötter könnten jetzt hieraus ableiten, dass man mit dem funktionierenden Medienanteil somit immer den schlechteren Teil abmildern kann. Stimmt! Und ein solches Korrektiv würde auch manchen Bestsellertiteln gut zu Gesicht stehen, aber diese Diskussion ist eine völlig andere. 
Leiten wir doch mal über zum eigentlichen Thema - denn manchmal kann die im Comic erzählte Geschichte beim ersten Blick wirklich krude sein, vor Allgemeinplätzen der phantastischen Literatur nur so strotzen und schlussendlich trotzdem überzeugen. Dies geschieht bei "Die Bruderschaft der Krabbe".
Bei der Lektüre des ersten beiden Bände formte sich auf meiner Stirn schon ein ausgeprägtes Skeptikerfältchen. Hier wurden in verschwenderischer Form (fast) alle erwartbaren Figuren des phantastischen Comics versammelt.
Zu nennen wären der in Okkultismus und  Wiederbelebungstechnologie erfahrene Forscher plus verwachsenen Gehilfe, der impulsive und trotzdem edel-wilde Werwolf, der überalterte Vampirfürst mitsamt seiner silikonverziertem Leibgarde, die namenslosen und amorphen Alpdruckgestalten eines Lovecrafts and last, but not least Imhotep als sinisterer Mediziner, der seine ewige Jugend dem Aderlass junger Knaben verdankt - Kosmetikkritik mal anders, Lady Bathory durfte in der Mottenkiste bleiben.

Aber trotz aller Klischeereiterei verzaubert die dreiteilige Reihe auf Anhieb. Dies ist zum einen der wirklich atemberaubenden Licht- und Farbatmosphäre geschuldet, die auf den Covern nur ungenügend zum Ausdruck kommt, aber auch dem raffinierten Narrativ, welches dem Leser nie eine zuverlässige Erzählinstanz präsentiert, jede Deutung bleibt bis zur letzten Seite möglich: die wahnhafte, die panische, die okkulte, die offensichtliche, die figurative.
Im Zentrum der Geschichte stehen fünf Kinder/Jugendliche deren Schicksal durch eine Erkrankung verbunden ist. Man schwört sich gemeinsam auf ein hehreres Ziel ein und glaubt durch den Beitritt zur "Bruderschaft der Krabbe" die Ängste vor der Operation mildern zu können. Was zunächst wie das beschreibende Szenario einer zufälligen Gruppenbildung auf einer beliebigen onkologischen Kinderstation erscheint dreht zunehmend ins absurde, groteske, phantastische.
Und alle diese Angstfiguren wachsen über ihre orthodoxen Funktionen hinaus, der Vampir schrumpft plötzlich zum tötungswillige Greis, dem jegliches Mittel zur Lebensverlängerung als legitim erscheint, der von dunklen  Gedanken getriebene Forscher ist nur ein erfolgsorientierter Genetiker und auch Imhotep erscheint unter dieser Prämisse nur als verkannter Intensivmediziner.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie einer seit Menschengedenken existierenden Verschwörung angehören, welche die fünf Kinder aufzudecken gewillt sind. Das völlig Andere manifestiert sich in diesem Falle als riesenhafte Kreatur, flankiert von einem Jahrtausende alten Kult, einem konspirologischen Zirkel, dessen Ziel die Schaffung des Unvorstellbaren, des Unsagbaren ist - die Verwirklichung des ultimativen, weltzerstörenden Monstrums - der Krabbe. 

Der dritte Band entwickelt (trotz allem phantastischem Zierrat) eine verstörende Stimmung, die mich sehr an Brecchias Perramus erinnerte, auch hier gehen Willkür und Ausbeutung mit der Verwirklichung der eine, großen Idee Hand in Hand. 
Tausende von Totenkopf tragende Medizinergehilfen sortieren die menschlichen Schlachtabfälle nach ihrer Nutzbarkeit für die Schaffung der Krabbe. Neben der Darstellung bürokratischer Prozesse innerhalb einer brutalen medizinischen Verwertungskette, dürften auch die mehr als deutlichen grafischen Zitate an dieser Deutung nicht gänzlich unschuldig sein. Und ganz in der Tradition des magischen Realismus (und auch der fortschrittskritischen Phantastik) wird auch hier niemals vollständig geklärt, welche Aussageabsicht die einzelnen Bilder nun innewohnt. 
Der Leser kann sich somit auf eine verstörende, atmosphärische dichte Reise durch drei Bände gegeben, deren Ziel nicht die befriedigende Antwort auf alle Fragen ist, sondern vielmehr ein Denkanstoss über die Industrialisierung von Medizin oder den kindlichen Umgang mit dem nahenden Tod oder die wilde Phantasie zweier Comicschaffender oder vielleicht doch etwas völlig anderes - denn natürlich können wir Aufgeklärten nicht daran glauben, dass irgendwer auf diesem Planeten in Laboren oder Hexenküchen an der ultimativen Waffe arbeitet, oder?
Band #01, #02 & #03 findet ihr hier.