Zwei Jahrzehnte lang betrieben europäische Politiker europaäische Politik als Chefzimmerangelegenheit. Das Volk durfte mitmachen, nicht aber mitreden, seine Zukunft wurde ihm tafelfertig vorgesetzt. Eine Abstimmung über die Speisekarte habe sich erübrigt, hieß es, weil Politiker von Amts wegen besser wissen, was für alle Menschen gut ist, als alle Menschen selbst.
Hätte es seinerzeit Volksabstimmungen über die Lissabon-Verträge zur europäischen Integration gegeben, gäbe es heute kein Europa, oder doch jedenfalls keines, dass als "Epizentrum" (Jean-Claude Trichet) der größten Krise seit "den 20er Jahren" (Angela Merkel), der "Zweiten Weltkrieg" (Trichet) oder "dem Zweiten Weltkrieg" (Barack Obama) gehandelt wird.
Seinerzeit entschieden Politiker - und abgesehen von der FDP fanden das alle deutschen Parteien gut so. Warum denn den Pöbel fragen, was er essen möchte, wenn man auch selbst bestellen kann? Wenn es dann allen geschmeckt hat, muss man wenigstens mit niemandem den Applaus teilen.
Bekanntermaßen aber ging das Europa-Projekt der Nomenklatur-Europäer dann doch in die Hose. Und nun werden aus den größten Anhängern eines von oben geschaffenen E10-Einheitsstaates die glühendsten Anhänger eines Graswurzeleuropa im demokratischen Mäntelchen. Sigmar Gabriel etwa, bis heute amtierender Pop-Beauftragter der deutschen Sozialdemokratie, möchte das Volk nun mehr doch mitnehmen auf dem Weg vom Europa der Institutionen zum Europa der Bürger. Ds Kind liegt im Brunnen, die Politik hat es hineingeworfen. Nun, sagt Gabriel, "brauchen wir wieder die Zustimmung unserer Bürgerinnen und Bürger zu Europa."
Er sei, so der gescheiterte niedersächsische Ministerpräsident, jetzt "für Volksentscheide über die Zukunft Europas und des Euro". Gabriel, der schon 2002 festgestellt hatte, dass "wir in Deutschland und Europa einen neuen Aufbruch und neuen Fortschritt" brauchen, plädiert dafür, dass "in Zukunft" zumindest "über grundsätzliche Fragen der Europa-Politik das Volk direkt entscheiden" soll. Darunter würden dann auch die Zustimmung zum dauerhaften europäischen Rettungsschirm fallen.
Umfragen zufolge wünschten die Bürger ja "mehr Europa", auch wenn nie gefragt werde, was sie darunten verstünden, hat Gabriel gelesen. Sorgen mache den Menschen bloß das real existierende Europa. Deshalb komme es jetzt darauf an, "das europäische Projekt wieder zu erklären, sich Mühe zu geben und dafür zu werben", was Europa alles Gutes gebracht habe: Feinstaubzonen und Rauchverbote, Glühlampenverbote, Biospritbeimischung und den neuen Heimtierausweis, Regelungen zur zulässigen Gurkenkrümmung und gegen nigerianische Spamversender. Leider hätten die Menschen offenbar trotzdem gemerkt, dass es so wie bisher nicht weitergehe. "Wir", nimmt Gabriel sich und die "europäischen Eliten" (Gabriel) nun in die Pflicht, "müssen die EU gründlich reformieren". Anschließend sollten die Bürger darüber "abstimmen", ob ihnen das Ergebnis gefalle.
Gehe die Abstimmung gegen den gemeinsamen Vorschlag von Staats- und Parteiführung aus und werde etwa der europäische Rettungsschirm abgelehnt, bleibe immer noch das dänische Modell: Es werde dann einfach so oft noch einmal abgestimmt, bis die geleistete Überzeugungsarbeit sich in einem entsprechenden Ergebnis niederschlage.