Gabor Steingart verteidigt die Marktwirtschaft

Von Modesty

Die arme Marktwirtschaft hat es dieser Tage wirklich nicht leicht. Sie wird missbraucht, dämonisiert, strapaziert, verraten und verkauft. Schlimmer ergeht es höchstens noch der Demokratie, die inzwischen auf Ramsch gesetzt wurde. Und das gemeinste überhaupt: Die Marktwirtschaft wird gegen die Demokratie ausgespielt. Oder umgekehrt. Und Nietzsche hat es schon immer gewusst: Wo das Geld klingelt, da herrscht die Hure.

Dabei kann die arme Marktwirtschaft doch nichts dafür. Denn sie ist, wie Gabor Steingart einem sehr langen Handelsblatt-Artikel erklärt „seit jeher ein höchst unvollkommenes System, das Ordnung, Stabilität und Vollkommenheit anstrebt, ohne sie je erreichen zu können. Sie ist ein natürliches Ungleichgewichtssystem, das von einer Instabilität zur nächsten stolpert. Die Balance zwischen Angebot und Nachfrage ist ihr Ziel, aber eben nicht ihr Zustand. Das wird ihr nun zum Verhängnis.“

Die Marktwirtschaft könne die Voraussetzungen, die sie zum Leben braucht, nicht selbst hervorbringen. Sie sei schutz-, pflege- und permanent korrekturbedürftig. Sie sei kein Finalzustand, sondern ein Verfahren der Annäherung. Und weil alles unvollständig sei, genau wie auch die Information über die Märkte und die auf ihnen feilgebotenen Produkte, käme es zu Marktunvollkommenheiten am laufenden Band. Die Marktwirtschaft an sich sei ein systemisches Risiko.

Die Marktwirtschaft und ihre Feinde: Ausschnitt aus dem Handelsblatt


Das stimmt allerdings. Marktwirtschaft ist Wettbewerb, Kampf, harte Arbeit. Jetzt aber wird’s drollig: Steingart sagt, Marktwirtschaft und Kapitalismus seien nicht dasselbe. Der Kapitalismus verlange nicht nach Staat, sondern nach dessen Unterordnung. Der Kapitalismus kenne keine Gnade, insbesondere gegenüber Verlierern. Die Marktwirtschaft dagegen sei bescheidener und kenne ihre Macken. Sie wüsste, dass sie den Staat brauche, der immer wieder eingreifen müsse, um Anarchie, Massenarmut und Monopole zu verhindern. Ja, auch die Marktwirtschaft lasse Verlierer zu, aber diese dürften in der nächsten Runde wieder mitspielen. Im Gegensatz zum Kapitalismus, der keine nächste Runde kennt. Der ganz gezielt Ungleichheit und damit Massenarmut und Not bei den 99 Prozent, die nichts zu sagen haben, irrationalen Reichtum und Überfluss bei dem einen Prozent ganz oben, also gesellschaftlich extrem problematische Zustände, herbei führt. Die für alle am Ende sehr ungemütlich werden. Gut, so genau führt Steingart das an dieser Stelle gar nicht aus, aber wer Kapitalismus sagt, muss seine hässlichen und unbequemen Folgen auch mitdenken. Und zwar nicht nur im vom Steingart durchaus wahrgenommenem Bereich von Finanzkrise und der politischen Verstrickung von Staat und Banken.

Aber so genau will Steingart das gar nicht wissen – was soll er auch gegen den Kapitalismus sagen? Der geht schon okay, wenn er gerade nicht entartet. Wenn er sich in der beherrschbaren Form der Marktwirtschaft zähmen lässt – die leider, leider, aber halt notwendig ziemlich viel Staat braucht, um zu funktionieren.

Immerhin stellt Steingart fest, dass die Feinde der Marktwirtschaft keineswegs nur auf der linken Seite zu finden seien – selbstverständlich auch dort, aber die Linken seien längst als Romantiker entlarvt. Und damit harmlose Spinner. Schlimmer dagegen die angeblichen Freunde der Marktwirtschaft, die laut nach mehr Markt und weniger Staat rufen. Die Neoliberalen, die Investmentbanker, also jene, die so schlau sein wollten, bei der Produktion von mehr Geld aus Geld den mühseligen Umweg über die Produktion von irgendwelchen Gütern einzusparen.

Lustig, dass sich Steingart in diesem Zusammenhang eine „Art chemischer Reaktion“ vorstellt, bei der durch den Zusatz von „Arbeit“ und „Rohstoff“ in eine Ware entsteht, die „ihren Mehrwert in einem Grande Finale wieder in Geld ausdrückt“. Die „chemische Reaktion“ ist nichts anderes als die Ausbeutung jener, die dem Rohstoff ihre Arbeit, also ihre Kraft, ihre Energie, ihre Lebenszeit, zusetzen müssen, damit sie am Ende was zum beißen haben, damit sie auch morgen wieder Mehrwert produzieren können – den der Kapitalist einsteckt, auch wenn er sich als marktwirtschaftsfreundlicher Unternehmer tarnt. Aber so kann Steingart das natürlich nicht sehen, sonst würde er am Ende erkennen, dass seine hoch und heilige Marktwirtschaft eben auch nur schnöder Kapitalismus ist und nichts anderes tut, als aus Geld mehr Geld zu machen. Wenn auch über den marktwirtschaftlich korrekten Umweg der Arbeit, der also der konkreten Ausbeutung von Menschen. Aber diesen Gedanken lässt Steingart lieber weg – sonst würde er am Ende gar Kommunist. Was ich sehr begrüßen würde. Aber so weit sind wir längst nicht.

Immerhin stehen auch ein paar zutreffende Dinge in dem Artikel. Etwa, dass der Kapitalmarkt nicht der Feind, sondern der große Ermöglicher von Politik ist. Und dass die Politik die Komplizin der Investoren ist, weil sie nach immer neuem Kredit giert – nur eine großzügige Politik ist eine für Wähler und Lobbyisten attraktive Politik. Auch hat Steingart nicht unrecht, wenn er feststellt, dass die großzügige Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte und die Exzesse an den Finanzmärkten zwei Seiten der einen Medaille sind. Denn nur durch die Schulden, die der Sozialstaat aufgenommen hat, war er überhaupt möglich. Nur dass die früher tatsächlich vergleichsweise großzügige Sozialpolitik längst zugunsten der noch sehr viel großzügigeren Rettungsschirm-Politik eingedampft wurde – und die Rettungschirme sind keineswegs für diejenigen gedacht, die am Ende wirklich welche brauchen werden.

Insofern ist es auch wieder unglaublich verlogen, die „Maßlosigkeit der Sozialpolitik“ als Ursache für die Maßlosigkeit der Finanzmärkte hinzustellen – insbesondere wo zuvor doch ein Hohelied auf die soziale Ader der Marktwirtschaft gesungen wurde, die offenbar nur sozial war, weil der Staat eben bereit war, die ihre Verluste und Ungerechtigkeiten mit kreditfinanzierter Großzügigkeit abzufedern. Da muss sich Steingart schon einmal entscheiden. An der aktuellen Schuldenlawine ist in der Logik nämlich die bescheidene soziale Marktwirtschaft schuld – mit ihren Schulden wurden die Märkte gemästet.

Insofern ist das kein Verrat an den Prinzipien der Marktwirtschaft, sondern am Verstand des aufgeweckten Lesers. Die unheilvolle Allianz aus Banken und ihren Rettern muss nicht öffentlich aufgearbeitet werden – sie ist völlig offensichtlich. Notwendig wäre es allerdings, den Leuten zu erklären, dass das kein Systemversagen, sondern genau das System ist: Die Wirtschaft funktioniert im Kapitalismus nur, wenn die einen per staatlich garantierten Privateigentum der anderen vom Reichtum, den sie durch ihre Arbeit produzieren müssen, ausgeschlossen sind. Dazu braucht der Kapitalismus den Staat: Das Eigentum muss geschützt werden, außerdem muss die Staatsmacht die Gültigkeit des Geldes garantieren, mit dem der Kapitalist Geschäfte macht. Außerdem ist der Staat beim Kapitalisten durchaus beliebt, wenn er großzügig Staatsaufträge oder wenigstens Hermesbürgschaften vergibt. Ansonsten soll der Staat funktionieren und die Klappe halten. Umgekehrt erwartet der Staat genau das von seinen Kapitalisten: Sie sollen ordentlich Geld verdienen und dem Ansehen der Staatsmacht zuträglich sein: Die Deutsche Bank zum Beispiel ersetzt heutzutage die preußische Armee.

Die (Finanz-)Märkte sind übrigens weder enthemmt, noch außer Kraft gesetzt, sondern absolut intakt – genau deshalb geht es dem Euro gerade an den Kragen. Das ist kein Marktversagen, so funktioniert Markt: Die einen verlieren, die anderen gewinnen. Jetzt werden nur gerade die über den Tisch gezogen, die sonst immer die anderen über den Tisch ziehen. Das ist für uns, die wir hier in der Eurozone unser Geld verdienen müssen, natürlich blöd – aber irgendwer wird sich daran schon dumm und dämlich verdienen. Kapitalismus ist grausam und ungerecht. Und nur Romantiker können noch glauben, dass die Marktwirtschaft nichts damit zu tun hat.