Im Jahr 1806 wurde die Quadriga, die bekannte Plastik auf dem Brandenburger Tor, nach der für Preußen verlorenen Schlacht bei Jena und Auerstedt auf Weisung des französischen Kaisers Napoleon als Beutekunst nach Paris gebracht. Nach dem alliierten Sieg über Napoleon wurde die Quadriga 1814 von den Truppen Blüchers in Paris noch in Kisten verpackt gefunden und nach Berlin zurückgebracht. Nach einer anderen Darstellung hat die preußische Regierung 1815 Karl Friedrich Heinrich Scheibler, einen Schüler Schadows, beauftragt, die von Napoleon aus Berlin geraubten Kunstschätze in Paris zu suchen und zurückzuholen. Ob es so oder so oder nicht noch ganz anders war, sei dahingestellt. Aber gerade das hat Thilo Scheurer zu seinem historischen Roman „Quadriga“ veranlaßt – mit einer eigenen Version der Suche nach dieser Groß-Plastik.
Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Verbindung mit den Jahreszahlen 1813/14 – das ließ beim Rezensenten zunächst die bange Befürchtung aufkommen, es könne sich beim vorliegenden Buch um eine weitere derzeit leider gängige Glorifizierung preußen-deutschen Hurrapatriotismus handeln.
Doch, schon nach wenigen Seiten stellte sich diese Befürchtung als unbegründet heraus. Ja, die Absage an Krieg, Chauvinismus und Obrigkeitsstaat preußischer Prägung kommt mehr als deutlich zum Ausdruck.
Hierfür mag nur eine Textstelle als Beleg stehen:
Leopold zog die Mundwinkel nach oben und fuhr mit spöttischer Stimme fort: “Der erste Schritt zum ruhmreichen Sieg. Für König, Vaterland und Kartoffelsuppe.” Das Grinsen in seinem Gesicht gefror augenblicklich.
Portjanow lachte laut auf und schlug sich auf den Schenkel. “Kartoffelsuppe …ha, ha, … Kartoffelsuppe … das ist wirklich gut.”
Carl warf beiden einen vorwurfsvollen Blick zu und knurrte verärgert: “Es kann nichts falsches daran sein, für solch hohe Ziele zu kämpfen und – so Gott will – sein Leben dafür zu lassen.” (…)
“Denn das hier war schon immer deutscher Boden … heiliger Boden”, erklärte Carl und machte ein trotziges Gesicht.
“Was soll an diesem Boden schon heilig sein”. Leopold schüttelte den Kopf. “Und außerdem gibt es auf deinem beschissenen deutschen Boden viele Franzmänner, die das ganz anders sehen.” (S. 149/150)
Der Roman erzählt die kurze gemeinsame Geschichte zweier ungleicher Freunde, dreier ungleicher Kriegskameraden:
Leopold Johannes Berend stammt aus einer kleinbürgerlichen und total verelendeten Berliner Beamtenfamilie. Als Kriegsfreiwilliger in einem schwarz-rot-goldenen Freikorps konnte er wegen Tapferkeit und Begabung ausnahmsweise zum preußischen Leutnant aufsteigen.
Carl Eugen von Starnenberg ist der Sprößling eines ostpreußischen Adelsgeschlechts, für das hohe geistige Bildung und Offizierslaufbahn eine Selbstverständlichkeit sind.
Nikolai Portjanow ist Offizier eines russischen Kosakenregiments.
In der Endphase des antinapoleonischen Freiheitskrieges dienen Leopold und Carl gemeinsam in einer preußischen Eliteeinheit und freunden sich trotz aller Standesunterschiede rasch an. In Erfüllung eines Sonderauftrages durch den Generalstab wird ihnen Nikolai samt seiner Kosakeneinheit als Begleitschutz beigeordnet. Und aus dieser Kriegskameradschaft entwickelt sich ebenso eine Dreierfreundschaft.
So ungleich wie ihre Herkunft und ihr gesellschaftlicher Stand, so ungleich sind auch die Motive der drei jungen Männer.
Leopold will Rache nehmen an der „Bestie”, die das Leben seiner Familie zerstört hat. Royale Phrasen („Für König und Vaterland…”) interessieren ihn nicht, da sie die Lebenswirklichkeit „kleiner Leute” nicht tangieren. Diese können ja froh sein, wenn für sie auch in Friedenszeiten gerade mal „Kartoffelsuppe” als Lohn für „treue Dienste” winkt… Über sein persönliches Motiv und wer die „Bestie” ist, schweigt er sich lange aus. Vermutungen, er könnte damit hurrapatriotisch Napoleon persönlich gemeint haben, bestätigen sich nicht. Carl dagegen lebt gefühlsmäßig voll in seiner feudalen Klasse, die sich selbst mit „König und Vaterland” identifiziert. Wobei seinerzeit mit Vaterland noch lange nicht „Deutschland”, sondern jeweils Preußen, Bayern oder Württemberg usw. verstanden wurde. Und Nikolai schließlich will Rache nehmen für die schlimmen Untaten, die die napoleonischen Truppen (und das waren nicht nur Franzosen, sondern in großer Zahl auch Truppen deutscher Feudalherrscher) im Aggressionskrieg gegen Rußland begangen haben.
Scheurer führt aber auch die Gegenseite ins Geschehen ein: Die Baronesse Isabelle de Rousselot, Tochter eines schwerverletzten und desillusionierten napoleonischen Generals. Isabelle ist aber nicht verwöhnte, vergnügungssüchtige Tochter aus gutem Hause, sondern eine gebildete, selbständig denkende und handelnde Frau. Und schließlich noch Jean-Baptist Marchant, Eisenwarenhändler und treusorgender Familienvater.
Zur Geschichte selbst
In der Silvesternacht 2013/2014 zogen zehntausende Soldaten der verbündeten Truppen vieler Länder Herren über den Rhein gen Westen, um Napoleon und seine Grande Armee endgültig zu schlagen. Eingebettet in diesen Feldzug erhalten Leopold und Carl vom Generalstab einen doppelten Geheimauftrag: sie sollen zum einen einige Stationen der französischen optischen Telegraphenlinie Mainz-Metz unbrauchbar machen, damit die napoleonische Armeeführung von Frontinformationen abgeschnitten wird. Zum anderen aber sollen sie dann so schnell als möglich hinter den feindlichen Linien nach Paris vorstoßen und dort die entführte Quadriga ausfindig machen. Und damit die beiden ihren Auftrag ungestört erfüllen können, sollen kampferprobte Kosaken sie dabei beschützend begleiten.
Was auf den ersten Blick recht einfach erschien, erweist sich im Laufe ihres Vordringens auf der doch kurzen Strecke von Mainz bis Metz als überaus kompliziert. Das liegt nicht nur am eisigkalten Winter, nicht nur an gefährlichen Wegstrecken und dem Widerstandswillen der kriegserfahrenen französischen Soldaten.
Nein, ihnen begegnen auch die ganz alltäglichen Kriegsgräuel. Vor allem das Leiden der Zivilbevölkerung, die nicht nur unter den direkten Kriegshandlungen beider Seiten zu leiden hat. Nein, Einquartierungen, Plünderungen und das Einschleppen von Krankheiten und Seuchen setzen den Menschen auf das härteste zu. Ja, das führt sogar zu Verrohungen und Lynchjustiz an überwältigten französischen Soldaten.
All diese Kriegsgräuel und das dadurch bedingte menschliche und un-menschliche Verhalten wird aber nicht aus heutiger Elfenbeinturmsicht dargestellt (und bewertet), sondern in Bezug zur damaligen Zeit und ihren konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen gesetzt.
Am Rande von Paris wird Nikolai als fast letzter seiner Kosaken von einer Kugel tödlich getroffen, Leopold selbst schwer verletzt. Isabelle, die dieses vom elterlichen Landsitz mit ansehen mußte, eilt zu Leopold, holt ihn ins Haus und sorgt für dessen Pflege und Gesundung. Und das, obwohl er ja „der Feind” ist. Auch Carl kann sich dort erholen. Eines Tages aber werden sie gewahr, daß württembergische Soldaten ins Haus eingedrungen waren, Isabelle zu vergewaltigen versuchten und ansonsten Familie und Dienstpersonal mißhandelten. Leopold, obwohl schwerverletzt, und Carl gelingt es, die Eindringlinge zu überwältigen. Für sie zählt Menschlichkeit mehr als „die richtige Seite” im Krieg.
Und nun beginnt Leopold in Paris mit der gar nicht einfachen Suche nach der „Bestie”, die er erst sehr spät namentlich als Jean-Baptist Marchant benennt. Er will nur noch Rache nehmen. Rache nehmen dafür, daß Marchant zuvor als Besatzungssoldat in Berlin seine Schwester brutal vergewaltigt hatte, so daß diese für immer körperlich und seelisch behindert war, daß beider Vater einen schlimmen Tod hatte und daß die Witwe mit ihren kleinen Kindern in bitterster Armut leben mußte (Leopold konnte nur durch Diebstähle fürs Essen der Familie sorgen). Wie wird er sich verhalten, wenn bzw. als er schließlich Marchant in dessen Laden Auge in Auge und mit geladener Waffe gegenüber steht? Wie verhält sich Carl, der Leopold auch hier als wirklicher Freund zur Seite steht? Und was wird aus Isabelle, die für Leopold kein Feind war, keine Fremde mehr war?
Das sind Fragen, die der Autor durchaus beantwortet. Wobei hier nur gesagt werden soll, daß es da viele überraschende Entwicklungen und Wendungen gibt.
Und die Quadriga? Ach ja, auch diese für die beiden Freunde trotz höchstem Auftrage eher unwichtige Frage wird beantwortet, und soll kein Geheimnis bleiben: Auf verschlungenen Wegen, aber zielstrebig finden die beiden Offiziere diese Großplastik. Auftrag erfüllt! Damit ist für sie diese Angelegenheit ohne große Worte erledigt.
Scheurer hat einen bemerkenswerten historischen Abenteuerroman geschrieben, der sich flüssig und überaus spannend liest (Die Dialoge, aber auch die Reflexionen, der Protagonisten tragen wesentlich zur Wirkung des Buches bei.). Aber es geht dem Erzähler hier nicht um Abenteuer, gar Kriegsabenteuer, schlechthin. Nein, er hat sehr plastische, lebenspralle Charaktere geschaffen (und diese Plastizität ist bedeutsamer und tragender als die titelgebende Plastik der Quadriga), Charaktere aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten. Charaktere, die sich in Bezug zueinander entwickeln, das trifft insbesonders auf Carls charakterliche Reifung zu, und bei aller Fiktionalität atmet daher dieser Roman Authentizität.
Es waren nicht nur diese abgedroschenen Phrasen, vaterländischen Phrasen, die Leopold bereits tausendmal gehört hatte und schon lange unerträglich fand. Viel mehr als das störte ihn diese Naivität, verbunden mit der Verbissenheit eines Eiferers, die sein Kamerad offenbarte. Mit grimmiger Miene biss er die Lippen aufeinander, während Carl weiter schwärmte: “…Gott und unser fester Wille werden dieser gerechten Sache zum Sieg verhelfen. Mit einem glorreichen Frieden und der Widerkehr einer glücklichen Zeit.” (S. 64/65)
Nur wenige Monate später, nach seinen realen Kriegserlebnissen, hat Carl eine solche Naivität, Verblendung, überwinden können.
Ja, und das Buch ist, siehe z.B. obiges Zitat, nicht minder ein Antikriegsroman, der mit aller Kriegspropaganda, allen Propagandalügen (egal welcher Seite) aufräumt. Auch wenn es nicht so deutlich zum Ausdruck kommt, aber es ging auch 1813/1814 nicht um hehre Ideale und Werte, sondern zuvörderst nur um wirtschaftliche und politische Macht herrschender Klassen, egal ob französisch-bourgeoiser oder ob junkerlich-preußischer.
Siegfried R. Krebs
Thilo Scheurer: Quadriga. Roman. 428 S. Hardcover m. Schutzumschl. Edition Aglaia im Bookspot-Verlag. München 2013. 17,95 Euro. ISBN 978