Für eine Freundin
Ein Tropfen Bitternis wird zum rinnenden Bach im Jammertal. Ich beobachte Dich schon mein halbes Leben. Jeden Tag schöpfst Du mit einer großen Tasse daraus und trinkst. Und wenn der frische Regen kommt, fliehst Du in Dein Haus mit gewürgten Bildern und ausgestopften Menschen. Wenn ich Dir sage: Zünde eine Kerze an, sagst Du, das Haus könnte brennen. Wenn ich Dir sage: Geh nach draußen, sagst Du, dass Deine Beine schmerzen. Wenn ich Dir nichts mehr sage, sagst Du nichts mehr.
Ich schicke Dir Sonnenstrahlen. Doch im Jammertal verwandeln sie sich zu Blitzen, die in Dein Haus einschlagen. Sie reißen Bilder von Deiner Wohnzimmerwand. Durch die Risse kannst Du nach draußen sehen. Aber Du fliehst in Dein Schlafzimmer und schließt die Augen. Es gibt nur einen Weg aus dem Jammertal. Du musst einen Drachen rufen. Ich weiß, ihr Anblick ist furchterregend. Denn die Drachen sind blind, sie stoßen sich an jedem Berg, an jeder Tanne. Sie haben Narben und schreien wie kleine Kinder, hell und verzweifelt. Du weißt nie, ob Du einen guten oder schlechten Drachen rufst. Wenn Du ihn reitest, ist es zu spät. Ich kann verstehen, dass Du zögerst.
Du sagst, dass Du schon mit einem Drachen geflogen bist. Dass Du mit ihm abgestürzt bist und dass Du humpelnd zurückgekommen bist. Aber das ist nicht wahr. Und Du weißt es auch. Unter Deinem Bett liegen das blutige Beil und der Kopf des Drachens. Du hast ihn abgehackt, als er die Wolken berührte.
Mein Fernglas habe ich zur Seite gelegt. Ich werde Dich nicht mehr besuchen. Wenn Du mich brauchst, dann rufe mich. Ich werde für Dich da sein.
Anette Butzmann, Januar 2016
Mehr über die Autorin: www.litoff.de
Ein Tropfen Bitternis wird zum rinnenden Bach im Jammertal. Ich beobachte Dich schon mein halbes Leben. Jeden Tag schöpfst Du mit einer großen Tasse daraus und trinkst. Und wenn der frische Regen kommt, fliehst Du in Dein Haus mit gewürgten Bildern und ausgestopften Menschen. Wenn ich Dir sage: Zünde eine Kerze an, sagst Du, das Haus könnte brennen. Wenn ich Dir sage: Geh nach draußen, sagst Du, dass Deine Beine schmerzen. Wenn ich Dir nichts mehr sage, sagst Du nichts mehr.
Ich schicke Dir Sonnenstrahlen. Doch im Jammertal verwandeln sie sich zu Blitzen, die in Dein Haus einschlagen. Sie reißen Bilder von Deiner Wohnzimmerwand. Durch die Risse kannst Du nach draußen sehen. Aber Du fliehst in Dein Schlafzimmer und schließt die Augen. Es gibt nur einen Weg aus dem Jammertal. Du musst einen Drachen rufen. Ich weiß, ihr Anblick ist furchterregend. Denn die Drachen sind blind, sie stoßen sich an jedem Berg, an jeder Tanne. Sie haben Narben und schreien wie kleine Kinder, hell und verzweifelt. Du weißt nie, ob Du einen guten oder schlechten Drachen rufst. Wenn Du ihn reitest, ist es zu spät. Ich kann verstehen, dass Du zögerst.
Du sagst, dass Du schon mit einem Drachen geflogen bist. Dass Du mit ihm abgestürzt bist und dass Du humpelnd zurückgekommen bist. Aber das ist nicht wahr. Und Du weißt es auch. Unter Deinem Bett liegen das blutige Beil und der Kopf des Drachens. Du hast ihn abgehackt, als er die Wolken berührte.
Mein Fernglas habe ich zur Seite gelegt. Ich werde Dich nicht mehr besuchen. Wenn Du mich brauchst, dann rufe mich. Ich werde für Dich da sein.
Anette Butzmann, Januar 2016
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