Funkstille

Von Molly Logan @Frau_Logan

“Dr. L.?”, frage ich.
“Ja?” Unwillig schaut er auf und runzelt die Stirn. “Sie sehen doch, dass ich gerade zu tun habe, Frau Logan! Was ist denn so dringend?”
“Ich, äh, also …”, stottere ich.
“Ja bitte?” Chefchirurg Dr. L. schaut mich mißmutig an. In einer Hand hält er ein Skalpell, in der anderen einen Lötkolben.
Oha.
Mit gesenktem murmele ich eine Entschuldigung und verlasse den Raum. Wenn er löten muss, braucht er absolute Ruhe. Und wer weiß, vielleicht bekomme ich es ja doch alleine hin?

Ich gehe wieder an meinen Platz und widme mich dem, was vor mir liegt.
Es ist ein kleiner Weißer, gerade mal 2 Jahre alt. Er hatte schon öfters Probleme, aber seit Neuestem herrscht sogar Funkstille. Gar nicht gut: Wie soll ich denn so beim Sport Musik hören?

Probehalber gehe ich die wichtigsten Vitalfunktionen noch einmal durch:
– Ladefähigkeit: Check!
– Laut- und leiser-Knöpfe: Check!
– An und aus-Knopf: Uncheck!

Ich seufze tief und füge mich dem Unvermeidlichen: Ich werde operieren müssen!
Ich richte eine Extralampe aus, atme tief ein und aus, sammele mich und beginne, das Operationsumfeld von Plätzchenkrümmeln und Spielzeug zu befreien. Dann lege ich eine kleine Schale bereit, um die Schrauben und eventuell abfallende Organe oder sonstige Innereien sicher aufzuheben.

Dr. L. schaut vorbei, er legt wohl gerade eine Pause ein – nicht auszudenken, wenn ihm beim kauterisieren der Wunde ein Fehler passiert oder er im falschen Moment niesen muss; zu viele Dinge sind schon aufgrund einer Lötzinnverätzung oder deren Folgen von uns gegangen …

“Nun, Ärztin-in-Weiterbildung-Logan, wie sieht es aus?”, fragt er.
Doch nun sind wir in MEINEM OP, Schätzchen!
“Schlitz!”, schnauze ich ihn daher an. “Und zwar zackig!
Dr. L. verzieht das Gesicht, kann aber nichts gegen das ungeschriebene Gesetz ausrichten: Mein OP, meine Regeln!
Dennoch versucht er es.
Mit fachmännischem Blick schaut er mir über die Schulter und mustert den bewegungslos darliegenden Patienten.
“Ich würde mal eher sagen, Kreuz!”, sagt er mit mildem Spott in der Stimme.
Wenige Sekunden später hält er mir den Kreuzschraubendreher hin. “Hier, der müsste passen!”
“Das kann ich nur für Sie hoffen”, knurre ich. “Und hatte ich nicht nach einem Schlitzschraubendreher geschickt?”
Dr. L. schüttelt den Kopf, ein leicht spöttisches Lächeln um den Mund. Ich zucke nur mit den Schultern. Die Zeit wird meine Weisheit schon noch ans Tageslicht bringen.

Ich setzte den Kreuzschlitz an. Es handelt sich um einen guten Schrauber der Marke X. Er liegt griffig in der Hand, die Spitze ist leicht magnetisch. Schon oft wurde so ein Verschwinden kleinster Schrauben verhindert, wir arbeiten hier mit Profiwerkzeug!
Nur … WTF?
“WTF?”, brülle ich durch den OP, “Dr. L., warum zum Geier klebt der Griff dieses Kreuzschraubendrehers?”
Dr. L. denkt natürlich nicht im Traum daran, die Schuld zuzugeben: “Nuuuun, das ist eben ein viel gebrauchtes Werkzeug, das auch mal mit Schmutz, Öl und verschiedenenen Klebern in Berührung kommt!”
“Na und?”, erzürne ich mich, “Mensch, das ist ein Operationswerkzeug und nicht der Lappen einer Schulgebäudeputzfrau!”
Dr. L. senkt den Kopf, 1 zu 0 für mich!

Konzentriert und mit heraushängender Zunge entferne ich erst das Polster, dann die 4 kleinen Schrauben, welche die Abdeckung des rechten Lautsprechers am Gehäuse fixieren.
Mit einem befriedigenden *Plimp* landen die Schrauben in der Schüssel, Dr. L. nickt: Saubere Arbeit bisher!

Nun wird es kompliziert. Mit schweißüberzogener Stirn starre ich auf die nun nackte Körperstelle des Patienten.
“Mehr Licht!”, goethe ich hektisch, doch Dr. L. hat sich schon wieder aus dem Staub gemacht. Ich höre das Surren des Lötkolbens und rieche den unverwechselbaren Geruch verkohlter Kabel. Na toll.
Mit ruhigen Fingern versuche ich, die Abdeckung zu lösen. Die Schrauben sind gelöst und da ich keine Klebereste entdecken kann, ist davon auszugehen, dass sich die Abdeckung einfach vom Gehäuse abkniepen lässt. An dieser Stelle bin ich froh um meine Weiterbildung damals im Sommer `89 im Camp “Über den geordneten Einsatz von Gewalt gegenüber unbelebten Gegenständen”; wer hier zimperlich ist, kann gleich nach Hause gehen!
Eine ordentliche Portion Gewalt muss also her, doch es will mir nicht so recht gelingen.

Dr. L. betritt erneut meinen OP, schaut mir über die Schulter. “Na, wie läuft es, AiW-Logan-Maus?”
Ich ächze. “Gar nicht. Die Abdeckung will sich einfach nicht vom Gehäuse lösen lassen!”
“Schrauben?”
“Alle draußen!”
“Kleber?”
“Nichts zu sehen!”
“Nun, dann wird das sicher eingeklickt sein …”
“Wieso sollte man das noch extra einklicken, wenn das Ding doch schon mit 4 Schrauben fixiert ist?”, will ich erstaunt wissen.
Dr. L.s Antwort kommt wie aus dem Lehrbuch: “Manchmal verwenden die Hersteller solche Mechanismen, um ein unauffälliges Öffnen des Patienten zu verhindern. Denn mit eigenwilligem Öffnen erlischt jeglicher Garantieanspruch, die blöden Schweine!”
“Ach so” Klingt einleuchtend. “Und nu?”
“Hm”, macht Dr. L. “Ich würde versuchen, die Abdeckung einfach so abzukniepen, am Besten mit einem Schlitz… oh”
Es folgte in Moment peinlicher Stille (Dr. L.) sowie berauschenden Triumphs (ich). Dann holt Dr. L. den Schlitzschraubendreher.
“Bitteschön, AiW-Logan”, sagt er und haucht mir einen Kuss auf.
“Dr. L.!” Ich bin empört. “Nicht im OP und erst recht nicht vor einem Patienten!”
Grummelnd geht Dr. L. zurück in seinen OP. Doch nicht für lange, denn …
“DOKTOR L.!”, rufe ich, kaum, dass sein knackiger A*sch aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, “Kommen Sie mal bitte her!”
“Was ist denn?”, ruft er und eilt mir im selben Moment zur Hilfe.
Ich zeige auf das Massaker vor mir: “Wenn ich versuche, die blöde Abdeckung mit dem Schlitz abzukniepen, verbiegt und verreißt es mir hier alles, keine Ahnung, was die da für ein Ökkel-Metall genommen haben!”
Stille.
Dann: “Frau Logan, das ist Plastik!”

Zufällig muss ich auf Toilette, Dr. L. übernimmt.

Als ich zurückkomme, ist der Operationsbereich entblößt: Blanke Adern, Platinen und anderes Zeug außerhalb meines Kompetenzbereiches starrt mich an.
“Das Problem ist der An-Aus-Schalter”, versucht mich Dr. L. zu belehren.
“Diese Diagnose habe ich schon vor der Operation getroffen”, weise ich ihn kühl zurecht. Getroffen rutscht er zu Seite und überreicht mir wieder den Schlitzschrauber.
Vorsichtig teste ich Nachgiebigkeit, Widerstand und Funktionalität der beiden Lauter-Leiser-Knöpfe; alles einwandfrei.
“Das Problem ist ein Riß im unteren Bereich des Kontaktes”, mischt sich Dr. L. erneut ein. Ich verweise ihn meines OPs.
Dann teste ich behutsam den defekten Schalter. Offenbar hat eine große Krafteinwirkung dazu geführt, die Kontaktstelle brechen zu lassen. So trifft der An-Aus-Schalter auf kein Hindernis mehr bzw. wird nicht mehr zurückgedrückt und verharrt in der “An”-Position. Genau, wie ich es mir schon gedacht habe.

Reumütig schleicht sich Dr. L. wieder an.
“Tut mir leid …”, nuschelt er. “Können Sie schon Genaueres sagen?”
Ich seufze tief.
“Der An-Schalter geht nicht mehr zurück”, erkläre ich und demonstriere mit Hilfe des Schlitzschraubers die Fehlfunktion. “Dadurch ist der Patient dauernd in Betrieb, kann nicht mehr schlafen. Und-”
Ich muss schlucken. Bereits bei den Voruntersuchungen ist mir dieser schreckliche Verdacht gekommen, den ich nun bestätigt sehe. Eine einsame Träne rollte über meine Wange. Dann schalte ich meine Gefühle wieder ab. Ich muss jetzt funktionieren, knallhart, und jegliche Emotion wäre fehl am Platz!
“Der Patient”, fahre ich schließlich fort – Dr. L., der meinen inneren Kampf beobachtet hat, schweigt taktvoll, als hätte er meinen Moment der Schwäche nicht gesehen und ich beschließe spontan, am Abend mit ihm in die Kiste zu hüpfen – “ist somit nicht mehr in der Lage, Energie zu speichern”
Dr. L.s Gemüt verfinstert sich. “Was wäre, wen wir ihn per Stromkabel an eine Energiequelle anschließen würden?”
Ich schüttele den Kopf. “Er würde eine Energiekonserve nach der anderen verbrauche, ohne je wieder von der Quelle loszukommen, es wäre ein künstlich verlängertes Leben, weniger noch, ein Sterben auf Raten”
Dr. L. legt mir eine Hand auf die Schulter. “Was haben Sie jetzt vor?”
“Gehen Sie”, stoße ich hervor, bevor meine Stimme bricht. “Ich mache ihn zu, ich kann nichts mehr für ihn tun!”
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Am nächsten Tag, es ist ein stürmischer, dunkelverhangener Morgen und tiefschwarze Wolken, vorwärts getrieben und gejagt von einem zornigen Wind, tragen Kummer gleich schweren Regen über`s Land.
Mit wehendem Haar erweise ich meinem Wireless-Bluetooth-Kopfhörer die letzte Ehre, sorge für ein anständiges, ökologisches, nachhaltiges Begräbnis.
Ein letzter Blick zu dem Container mit der Aufschrift “Elektrokleingegenstände / Elekrotschrott”, dann drehe ich mich um und fahre ins nächste Elektrogeschäft, mir einen neuen Kopfhörer kaufen.
Ich weiß, er würde es so wollen – life goes on!


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