Functions considered harmful

Bisher habe ich die "traditionelle" konzeptionelle Objektorientierung als eine der Ursachen für die heutigen Probleme mit der Wartbarkeit von Software gesehen. Inzwischen regt sich jedoch in mir der Verdacht, dass das Wurzelproblem tiefer liegt.

Womöglich ist die Objektorientierung sogar zu loben, weil sie das irgendwie verstanden hatte und versucht zu helfen. Leider ist das nicht so geglückt, wie man es sich erhoffte. Warum? Weil das Wurzelproblem eben nicht behoben, sondern nur kaschiert wurde. Man hat sich nicht getraut, so tief nach unten zu graben, um es auszureißen.

Denn das Wurzelproblem scheint mir... der Funktionsaufruf.

Ja, genau, der gute alte, unscheinbare und für imperative Sprachen so fundamentale Funktionsaufruf.

Dass wir schreiben können

y = f(x)

ist der Keim vieler Wartbarkeitsübel.

Wie kann das sein?

Problem #1: Unbegrenzte Länge

Durch Funktionen gibt es keine Grenze für das, was eine Codeeinheit tun kann. Ungezügeltes Wachstum von Codeeinheiten wird durch Funktionen ermöglicht. Denn nach einem Funktionsaufruf kann es ja weitergehen im aufrufenden Code.

Funktionen kombinieren Request und Response. Damit kombinieren sie vorbereitenden Code und nachbereitenden Code im Aufrufer. Und selbstverständlich kann nachbereitender Code gleichzeitig vorbereitender Code für den nächsten Funktionsaufruf sein. Nach dem Funktionsaufruf ist vor dem Funktionsaufruf.

Wann sollte also aufrufender Code beendet sein? Wenn er inhaltlich eine Verantwortlichkeit erfüllt. Klar. Aber das ist ein Kriterium, dessen Erfüllung im Auge des Betrachters entsteht. Der eine mag es, Verantwortlichkeiten in höchstens 20 Zeilen zu formulieren, der nächste hat kein Problem, wenn es dafür 100 Zeilen braucht und wieder einem anderen sind auch 10.000 Zeilen recht.

Durch Funktionsaufrufe gibt es kein Halten in Bezug auf den Umfang des aufrufenden Codes. Die Existenz von Regeln, die versuchen, diesen Umfang direkt oder indirekt zu begrenzen, ist der beste Beweis dafür.

Und wie wäre es, wenn es keine Funktionen gäbe? Dann würde eine Codeeinheit immer nur aus soviel Code bestehen wie nötig ist, um einen Request vorzubereiten, der am Ende dann abgeschickt wird. Ohne Funktionen gäbe es keinen Response, den die vorbereitende Codeeinheit nachbereiten könnte, also wäre ihre Aufgabe mit Versand des Request abgeschlossen. Der Response würde von einer anderen Codeeinheit weiterverarbeitet.

Ohne Funktionen ist es aber natürlich sinnlos, von Request und Response zu sprechen. Einen Request gibt es nur, wenn man auch einen Response erwartet. Clients übergeben Requests an Services, die mit Responses antworten.

Ohne Funktionen gibt es nur Daten, die produziert und konsumiert werden. Producer senden Daten an Consumer. Und immer so weiter. Aus Client-Code wie diesem, der sich potenziell unendlich fortsetzt…

Client:
  Vorbereitender Code erzeugt X
  Y= f(X)
  Nachbereitender Code verarbeitet Y

wird Producer-Consumer-Code:

Producer:
  Vorbereitender Code erzeugt X
  Versenden von X

f als Prosumer:
  X nach Y transformieren
  Versenden von Y

Consumer:
  Nachbereiten von Y

Sie sehen, der Umfang jeder Codeeinheit ist ganz natürlich sehr begrenzt, wenn es keine Funktionen gibt. Es lässt sich einfach nur wenig tun, bis wieder Arbeit an eine andere Codeeinheit delegiert werden muss.

Die grenzenlose Kopplung von Vorbereitung und Nachbereitung ist das offensichtliche Problem, zu dem Funktionsaufrufe führen. Sie bläht aufrufende Codeeinheiten auf. Das erschwert schnell die Verständlichkeit und leistet einer Vermischung von Verantwortlichkeiten im Sinne des SRP Vorschub.

Problem #2: Unbegrenzte Tiefe

Unterhalb des Request/Response-Problems liegt leider noch ein weiteres, noch fundamentaleres. Das wird allerdings erst sichtbar, wenn Software weiter wächst. Es ist das Problem des Aufrufs schlechthin.

Zur Erinnerung: Aufrufe von Code sind eigentlich als Mittel zur Platzersparnis erfunden worden. Früher war Speicher eben sehr knapp. Da war jedes Mittel recht, um Bytes zu sparen. Also hat man das CALL/RET Maschinenbefehlpaar erfunden. Aus Code wie:

A
S
T
U
B
S
T
U
C
S
T
U

konnte nun werden:

A
CALL F
B
CALL F
C
CALL F

F: S
T
U
RET

6 Anweisungen statt 10. Das ist selbst mit diesem Pseudocode eine Reduktion um 40%.

Platzersparnis, nicht Wiederverwendbarkeit ist die Motivation hinter Unterprogrammen als Verallgemeinerung von Funktionen. Für Wiederverwendbarkeit wären Macros ausreichend gewesen.

Wie alles im Leben hat natürlich auch die Platzersparnis ihren Preis. Der besteht in der Trennung von Client-Kontext und Service-Code. Solange im obigen Beispiel STU zwischen A und B textuell steht, ist klar, was die Aufgabe von STU ist. STU steht im Nutzungskontext. Der Entwickler sieht zur Entwicklungszeit, was vorher passiert, was zwischendurch passiert und was nachher passiert.

Die Einführung des Unterprogramms F zerstört diese verständliche Einheit. Was zwischendurch passiert, steht nun irgendwo. Wer nun liest

A
CALL F
B

der ist darauf angewiesen, dass F ein ausdrucksstarker Name ist, um zu verstehen, was da passiert. Die vorherige Einheit zur Entwicklungszeit existiert erst wieder zur Laufzeit.

Das bedeutet: Funktionen machen den Aufrufort schwerer lesbar, weil sie dort Code durch einen Namen ersetzen. So eine Ersetzung ist sehr verlust- bzw. missverständnisgefährdet.

Und Funktionen machen Code insgesamt schwerer lesbar, weil sie einen natürlichen Zusammenhang wie

A
S
T
U
B

über die Codebasis verteilen. Auch da gibt es ja kein Halten. Die Aufruf-Schachtelung von Funktionen ist beliebig tief. Aus

A
S
T
U
B

wird zuerst

A
CALL F
B

F: S
T
U
RET

dann vielleicht

A
CALL F
B

F: S
CALL G
U
RET

G: T
X
Y
RET

und dann vielleicht

A
CALL H

H: CALL F
B
RET

F: S
CALL G
U
RET

G: T
X
Y
RET

uns so weiter…

Zur Laufzeit macht das alles keinen Unterschied. Zur Entwicklungszeit jedoch wird es immer schwieriger zu verstehen, was da eigentlich passiert. Inhaltliche Sequenzen werden aufgelöst. Es entsteht ein Granulat an Unterprogrammen, dessen Aufrufhierarchie zur Laufzeit keine formale Entsprechung zur Entwicklungszeit hat. Funktionen führen mithin zu einem fundamentalen Impedance Mismatch zwischen Entwicklungszeit und Laufzeit.

Gut, inzwischen gibt es IDEs, mit denen man die Aufrufhierarchie durchwandern kann. Aber seien wir ehrlich: das ist umständlich. Eine hierarchische Sicht von Funktionsaufrufen ist kein First Class Citizen in den populären IDEs wie eine Projektdateiansicht oder eine Klassenansicht. Und in der Tradition von C gibt es keine geschachtelten Funktionen in C++, Java, C#.

Die Schachtelung von Funktionsaufrufen ist so tief in unser aller Programmiererstammhirn eingebrannt, dass es nicht einmal eine Metrik dafür gibt. Man macht sich Gedanken über LOC pro Funktion oder die Schachtelungstiefe von Kontrollanweisungen in Funktionen. Die Tiefe der Aufrufhierarchie von Funktionen zur Entwicklungszeit hingegen, scheint niemanden zu interessieren. Dabei ist sie es, die den logischen Zusammenhang von Code auseinanderreißt.

Aus unbegrenzter Aufrufschachtelung folgt, dass auch die Problemlösung beliebig über die Tiefe der Aufrufhierarchie verteilt werden kann. Im obigen Beispiel können ja auf jeder Ebene – Aufrufwurzel, H, F oder G – Anteile von “Geschäftslogik” stehen.

  1. Das bedeutet erstens, es bedarf zusätzlichen Aufwands, um zu entscheiden, auf welcher Ebene Geschäftslogik angesiedelt werden sollte. Das ist aber natürlich Aufwand, der nicht zur Lösung des Problems beiträgt. Also scheut man ihn, wo es geht. Das Ergebnis sind flache Hierarchien mit sehr langen Funktionen (s. Problem #1).
  2. Das bedeutet zweitens, Funktionen, die nicht Blätter in der Aufrufhierarchie sind, machen zusätzlichen Aufwand beim Testen. Es muss ja nicht nur ihr Beitrag zur Problemlösung überprüft werden, sondern es müssen auch noch die aufgerufenen Funktionen ersetzt werden (Attrappen).
  3. Und drittens sind Aufrufhierarchien ständig gefährdet, durch Veränderungswellen erschüttert zu werden. Veränderungen breiten sich entlang von Abhängigkeiten aus:
    Wenn C wie Client von S wie Service abhängig ist, dann kann es bei Änderungen an C nötig sein, S nachzuführen. Und falls sich S ändert, kann es nötig sein, C nachzuführen.Je breiter und tiefer Aufrufhierarchien sind, desto unüberschaubarer die Ausbreitung von Änderungen, die immer irgendwo nötig sind. Das ist umso schlimmer, da ja diese Hierarchien nur schwer zu übersehen sind. Sie existieren nicht textuell und auch kaum in anderer Ansicht in den IDEs.

Fazit

Funktionen (oder allgemeiner: Unterprogramme) sind aus meiner Sicht eine der Hauptursachen für die Undurchschaubarkeit von Code. Sie machen seine Ausdehnung in Breite und Tiefe grenzenlos.

Dagegen helfen dann auch keine Ermahnungen und Metriken. Denn die sind sehr geduldig. Wenn es eng wird, hört man nicht hin und setzt sie aus. Immer mit dem Verweis, dass gerade anderes wichtiger sei – und es ja auch ohne ginge.

So entstehen unwartbare Codekonvolute einen Funktionsaufruf nach dem anderen.

*Dagegen hilft nur, Funktionsaufrufe klaren Auges als Gefahr zu sehen und ihre Nutzung zu rigoros zu begrenzen.*

Wir müssen diese Altlast aus den Anfangstagen der Programmierung abwerfen (oder zumindest mit weniger Schädlichem integrieren). Funktionen sind ein Erbe der Nähe zur Mathematik. Das hat uns weit gebracht – aber nun haben wir eine Grenze erreicht, da der Schaden größer als der Nutzen ist.


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