Frühkindliche Geschmacksverirrung

„Liebe Eltern, tun Sie Ihren Kids einen Gefallen und ziehen Sie ihnen zum ersten Schultag etwas Cooles an. Ich für meinen Teil hoffe, dass alle mein Outfit von damals vergessen haben. Ganz fest.“ Das schrieb die Redaktionsleiterin im Vorwort der Wochenzeitung, die der Grossverteiler meines Vertrauens jeweils am Montag in unseren Briefkasten flattern lässt. Auf dem Bild zum Vorwort ist eine Erstklässlerin zu sehen, die ein Kleidchen trägt, das man vor schätzungsweise 25 Jahren für ziemlich hübsch gehalten haben muss. Schuld an dieser Geschmacksverirrung waren natürlich die Eltern…

Wie gut ich doch diesen Vorwurf kenne. Ich bekomme ihn jedesmal zu hören, wenn Luise Bilder von ihrem ersten Schultag anschaut. Oder überhaupt Bilder aus ihrer Kindheit.

„Wie konntest du mich bloss so hässlich anziehen?“, fragt sie.

„Kind, du glaubst doch nicht im Ernst, du hättest dir von mir sagen lassen, was du anziehen sollst?“, frage ich jeweils zurück.

„Warum hast du mir denn nicht verboten, so aus dem Haus zu gehen?“, will meine Tochter wissen.

„Weil du dir von mir ganz bestimmt nie hättest vorschreiben lassen, was du anziehen sollst. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie stur du diesbezüglich warst“, sage ich und erzähle ihr von dem kleinen Mädchen, das bereits im zarten Altern von zwei Jahren im Kleiderladen in einen Kaufrausch geraten wäre, wenn ihre Mama – die sich lieber in Bücherläden herumtreibt – sie nicht zurückgehalten hätte. Ein Mädchen, das zielstrebig auf die Kleider zusteuerte, die es haben wollte, mochte die Mama noch so sehr für etwas Hübscheres plädieren.

Luise gibt sich nicht geschlagen. „Du hättest mir eben sagen müssen, dass das Zeug potthässlich ist“, beharrt sie.

„Glaub mir, das habe ich…“ sage ich seufzend und verdrehe die Augen, weil ich an den schrecklichen Cinderella-Pullover denke, den Luise trug, bis er voller Löcher war.

„Oder du hättest mir einfach etwas Schöneres in den Schrank hängen müssen. Wenn ich mal Kinder habe, kaufe ich denen nur Sachen, die voll stylish sind“, fährt Luise fort.

„Auch das habe ich getan und zwar genau so lange, bis ich erkannte, dass das nur rausgeschmissenes Geld ist, weil du die Sachen nicht angerührt hast“, verteidige ich mich, aber natürlich lässt meine Tochter nicht locker: „Und dann habt ihr mir dieses schreckliche Dirndl gekauft und mich dazu gezwungen, es zu Grossvaters Siebzigstem anzuziehen.“

Ich mache meine Tochter darauf aufmerksam, dass wir „dieses schreckliche Dirndl“ nur gekauft haben, weil sie nach den Ferien in Österreich wochenlang von nichts anderem mehr reden mochte und dass sie es zu Grossvaters Geburtstag anziehen musste, weil das sündhaft teure Ding sonst nie das Tageslicht gesehen hätte. Ihr Interesse daran war nämlich verflogen, sobald es im Kleiderschrank hing. 

Aber natürlich rede ich mir den Mund fusselig, denn Luise braucht nun mal eine Schuldige, die sie für die in ihren Augen so missratenen Kinderfotos verantwortlich machen kann.

Ich könnte wetten, dass hinter fast jedem „Meine Eltern haben mich so schrecklich angezogen“-Gejammer ganz ähnliche Geschichten stecken…

Frühkindliche Geschmacksverirrung


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