Belgrad 2004 - (Foto: Genial23) via http://www.flickr.com/photos/genial23/470841179/
Der Bericht unseres Gastautors balkanjoe bekommt plötzlich eine unerwartet aktuelle Relevanz. Am Mittwoch führte ein Boykott-Aufruf für serbische Waren im Kosovo an der Grenze zu Serbien zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ein Ideal aufrechtzuerhalten: Kultur als potentielles Surrogat für Konflikte…
„Wussten Sie, dass Serbien der weltweit größte Exporteur von Himbeeren ist? Letztes Jahr hat Serbien 63.300 Tonnen Himbeeren im Wert von 200 Millionen US$ exportiert! Was Früchte angeht, macht man den Serben so schnell nichts vor, das kann ich Ihnen sagen.“
Acht Uhr Morgens an einem Dienstag im Juli 2011 und ich hör’ mein Schwein pfeifen.
Die Abflughalle des Dortmunder Flughafens ist randvoll gepackt mit Menschen. Alle gucken schläfrig, gähnen und räkeln sich auf den harten Sitzbänken. Kaum jemand unterhält sich. Nur der Kerl mir gegenüber scheint schon voll auf Touren zu sein. Seit einer guten halben Stunde plappert er ununterbrochen auf seinen Sitznachbarn ein, redet vom wirtschaftlichen Potential Serbiens, von den großen Obstplantagen, die es dort gibt und den guten Geschäften, die er tätigen will.
Saft, das ist seine Branche. Er mache schon seit Jahren in Saft und wisse wie der Hase läuft, so sagt er jedenfalls. „Man muss die Früchte billig einkaufen, vor Ort produzieren und dann SCHWUPPS“ beim ausholen haut er seinem Gegenüber fast die Nase platt, „ab nach Deutschland. Da mache ich dann 40 bis 50% Gewinn. Wahnsinn!“
Wahnsinn. Wahnsinn ist tatsächlich eine treffende Beschreibung für Serbien. Knapp 11 Jahre ist es her, da war Serbien noch der Paria-Staat schlechthin, Hauptaggressor der Jugoslawienkriege, das unartige Kind der europäischen Völkerfamilie. Slobodan Milosevic, der gefühlt letzte Hitler unserer Zeit, als Diktator verschrieen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, starb in seiner Den Haager Zelle, ohne den Richterspruch gehört zu haben.
Seitdem herrschte Ruhe auf dem Balkan. Alle paar Jahre ein Bericht über Kosovo und die flüchtigen serbischen Kriegsverbrecher, sonst aber hörte man kein Wort vom südöstlichen Zipfel Europas.
Dann plötzlich ging alles Schlag auf Schlag. 2008 wurde Radovan Karadzic verhaftet, im März dieses Jahres traf es Ratko Mladic, den „Schlächter von Srebrenica“ und schließlich auch Goran Hadzic, das Schlusslicht in der langen Reihe serbischer Übeltäter. Man bekam das Gefühl, Serbien könnte sich zu einem Vorzeigestaat mustern, der mit großen Schritten der EU-Mitgliedschaft entgegengeht.
Und nun redet dieser Kerl über Fruchtsaft. Wahnsinn.
Zwei Stunden später steige ich in Belgrad aus dem Flugzeug und laufe gegen eine Wand aus Hitze. 38 Grad im Schatten – wenn es welchen gäbe. Entgegen aller Vorsätze und des guten Menschenverstandes lasse ich mich vom erstbesten Taxifahrer aufreißen. Auf dem Weg in die Stadt geht das Palaver los. „Woher? Aus Deutschland. Wohin? Nach Novi Sad. Zum EXIT? Nein, zum Sprachkurs. Nicht zum Festival? Nein, ich habe vorher noch in Belgrad zu tun.“
Tatsächlich ist es eine miese Schande, dass ich es nicht zum EXIT schaffe. Seit Jahren ist es das größte Festival in der Region. Von Snoop Dogg bis Jamiroquai hat hier alles gespielt, was in der internationalen Musikszene Rang und Namen hat. Der Anteil britischer, französischer und deutscher Besucher wird ständig größer. Kein Wunder, dass Festivals in Serbien inzwischen ein Wirtschaftsfaktor sind. Überhaupt liegt den Serben die Party im Blut.
Immerhin, dass zweite große Festival, Guca, steht noch an und meine Tickets sind schon gebucht. Guca ist sozusagen die urige Schwester des EXIT. Während EXIT für Pop und Rock steht, ist Guca das Mekka der Zigeunerkapellen. Zum 50. Jubiläum 2010 kamen etwa 600.000 Besucher in den kleinen Ort, der sonst nur etwa 2.000 Einwohner zählt. Knapp eine Woche lang verwandelt sich dieses serbische Kuhkaff in das perfekte Balkanklischee. Schweine am Grillspieß, Zigeuner mit Geldscheinen im Hemdkragen und halb bis vollkommen nackte Weiber, die auf, unter und manchmal auch neben den Tischen tanzen. Dazu gibt es Bier und natürlich Schnaps, Schnaps und Schnaps.
Man muss sich das ungefähr so vorstellen, als würde ganz Frankfurt morgen zusammenpacken und mit Sven Väth an der Spitze nach Ottersberg/Niedersachsen fahren um dort SonneMondSterne, Love-Familypark und die NatureOne gleichzeitig zu feiern. Nur, dass hier bessere Musik gespielt wird. Aber das ist Ansichtssache.
Am Ende der Taxifahrt und 2.000 Dinar später – der Wechselkurs liegt bei 1€ zu 100 Dinar und ist damit selbst für Zahlenlegastheniker wie mich zu bewältigen – liege ich auf meinem Hotelbett, atme flach und trinke in kleinen Schlucken kühlen Fruchtsaft. Wenn ich es mir genau überlege, schmeckt das Zeug wirklich gut, irgendwie süßer und dicker als in Deutschland. Überhaupt scheint in Serbien alles eine Runde süßer und dicker zu sein als daheim.
Mal sehen was in den nächsten Wochen und Monaten noch so passiert… Wahnsinn!!!
Text: balkanjoe