“Alle Welt wird Nelson Mandela vermissen. Die Trauer um ihn ist echt, weil er geradlinig war in seinem Handeln, weil er seine Ideale höher schätzte als den Wert seines eigenen Lebens. Dieser Mann machte keine Zu- geständnisse an seine Freiheit und versklavte sich deshalb nicht. Bei aller Schmach konnte er dennoch verzeihen, damit ein neuer Anfang möglich wurde. Nelson Mandela gehörte zu jenen Menschen, die Hannah Arendt liebevoll „Wundertäter“ nannte. Die bildhafte Sprache dieser außergewöhnlichen Philosophin fasziniert mich, aber noch mehr bin ich beeindruckt von ihrer Glaubwürdigkeit (Was sie von der Welt erwartete, lebte sie selbst.) und dem Radikalen in ihrem Denken. Damit sind weniger radikale Gedanken gemeint (die sie auch hatte) als vielmehr ihre Vorstell ung von einer handelnden Welt, in der die Menschen beherzt Konsequenzen aus ihren gewonnenen Einsichten ziehen: Politisches Engagement als Gegengift und Chance, gemeinsam zu handeln, damit Neues entstehen kann. Wer handelt, gestaltet die Welt. Weniger im Verwirklichen eigener Gedank en als vielmehr durch die Verbindung zu anderen Menschen.
Für Hannah Arendt ist die Welt das, was sich zwischen den Menschen abspielt. Die Welt wird im Sprechen und gemeinsamen Handeln überhaupt erst hervorgebracht. So hätte auch Nelson Mandela die Apartheid nicht allein besiegen können. Er musste sich mit anderen zusammenschließen. Nur so entsteht Macht. Einer allein kann keine Macht haben. Das gilt auch für falsche Autoritäten wie Stalin oder Hitler, die nichts Böses hätten anrichten können, wären deren Apparate nicht von vielen getragen worden. Die junge Hannah erlebte im Vorkriegs-Deutschland, wie viele ihrer Freunde freiwillig mitmachten, noch ehe die verordnete Gleichschaltung griff. Es versetzte ihrem Weltbild einen Riss, feststellen zu müssen, dass unter den Intellektuellen das Mitlaufen sogar die Regel war. Für sie war dieses Erlebnis ein Schock, der ihre Arbeit und ihr Denken bis zum Lebensende prägte, dass ein jeder die Pflicht habe, selbst zu urteilen: „Wer sich anpasst, hat seine Fähigkeit zu urteilen, zu leiden und zu verdammen verloren“. Es war Hannah Arendts radikaler Gedanke, dass das Leben ohne diese Bereitschaft, sich selbst auf’s Spiel zu setzen, sich zu exponieren, wie sie sagte, kein Leben, sondern nur ein Funktionieren wäre. Es war ihr Gedanke, dass die eigentliche Perversion des Handelns im Funktionieren liegt, was damals nirgendwo deutlicher zutage trat als im Schauprozess gegen Adolf Eichmann, der im Dritten Reich für die Organisation der Vertreibung und Deporta – tion der Juden zuständig war. In ihm sah Arendt einen feigen, bürokratischen Hanswurst, einen typischen Mitmacher, einen Funktionär, der die Verantwortung für sein Handeln ablehnt.
An der Schwelle des neuen Jahres mag es ein belebender Gedanke sein, dass von Menschen, bei denen Geist und Handeln stimmig, die mit anderen verbunden sind, etwas Neues, noch nie Dagewesenes in die Welt kommen kann. Sie wissen, dass unsere gemeinsame Welt Spielräume braucht und unter Dogmen verklumpt. Unsere gemeinsame Welt braucht auch die Verschiedenartigkeit. Wären alle gleich, wäre Verständigung weder nötig noch denkbar. Stattdessen gäbe es nur Belehrung und Drill. Vor allem aber braucht unsere gemeinsame Welt Vertrauen, weil es ohne Vertrauen kein Miteinander gäbe, keinen Boden, auf dem eine Saat aufgehen könnte. Wenn wir Beziehungen zu anderen Menschen eingehen, wissen wir vorher nie was daraus wird. Es ist immer ein Wagnis. Aber ohne dieses Wagnis, ohne ein grundlegendes Vertrauen in die Menschen wäre kein selbstgemachter Anfang gegen das Gelebtwerden möglich. Schließlich sind wir nicht verdammt, ein für alle mal definiert zu sein, weder durch eigene noch durch fremde Handlungen. Ohne Vertrauen gäbe es übrigens auch keine Freiheit. Denn nur ein freier Mensch kann ein Versprechen geben und halten…”
Quelle: ETHIKKER 12/13 – Ethikbank