Frischer Wind im Slapstick-Genre

Erstellt am 24. Oktober 2010 von Michael

THE SCARECROW
USA 1921
Darsteller: Buster Keaton, Joe Roberts, Sybil Seely, Joe Keaton u.a.
Regie: Buster Keaton
Dauer: 20 min

Bei der Wahl des nächsten zu besprechenden Stummfilmes habe ich mich diesmal von einem aktuellen Anlass leiten lassen, der ganz in meiner Nähe stattfindet. The Scarecrow, Buster Keatons dritter Film in Eigenregie wird heute im filmpodium der Stadt Zürich im Rahmen der Buster-Keaton-Retrospektive gezeigt, zusammen mit dem Langfilm Seven Chances. Wiederholung: Samstag, 30. Oktober um 20.45.

Staunt man über Keatons Erstling One Week, weil da alles bereits „fertig“ vorliegt, was seine späteren Filme so einzigartig macht (die uhrwerkartig ablaufende Handlung, die technischen Extravaganzen, der grotesk-monumentale Höhepunkt) so wird man von der Krudität des Zweitlings Convict 13 vor den Kopf gestossen. Da geht’s zu wie beim frühen Chaplin.
Sein drittes Werk, The Scarecrow hingegen ist wieder ganz Keaton; zum zweiten Mal bringt er da sein Flair für technische  Spielereien ein, noch ausgeklügelter als in One Week.

Im Grunde ist The Scarecrow nichts weiter als eine locker, im Grunde nur notdürftig zusammengehaltene Aneinanderreihung von drei Sketchen: Buster und Joe beim Frühstück in ihrer multifuntionalen Einzimmerwohnung (der mit Abstand beste der drei Teile), Busters Flucht vor einem vermeintlich tollwütigen Hund und eine Verfolgungsjagd zu viert, die mit einer Heirat auf dem Motorrad endet.

Trotz seiner Dreigeteiltheit wirkt der ganze Film wie aus einem Guss. Dieser Eindruck entsteht dank Keatons Sinn fürs leicht Ausgefallene, Experimentelle, das sich als roten Faden durch The Scarecrow zieht. Im Gegensatz zu Chaplin, dessen eher konventionellen Kurzfilmen das Kinopublikum zu jener Zeit zujubelte, führte Keaton eine fast avantgardistische Verdrehtheit in die Slapstick-Komödie ein, die mit einer bislang ungekannten, maschinenhaften Präzsion (Timing) gepaart ist.
Die Flucht vor dem Hund etwa spielt sich in einer Ruine ab und erhält so einen ganz eigentümlichen, fast experimentellen Anstrich.

Und die Eröffnungssequenz mit den multifunktionalen Einrichtungsgegenständen vermag auch ein heutiges, abgebrühteres Publikum in Erstaunen und/oder Entzücken zu versetzen. Da baut sich Keaton eine eigene, dank multifunktionalen Geräten und Möbeln „bessere“, weil zeitsparende Welt auf und verwirklich somit filmisch (und ironisch), was die fotrtschreitende Mechanisierung der Menschheit als Traumbild vorgaukelt.

Guckt man The Scarecrow heute an und vergleicht ihn etwa mit einem Chaplin-Film aus derselben Zeit, dann sticht einem Keatons Wille (oder Hang) zu neuen Themen und Erzählstrukturen und zu filmischen Experimenten ins Auge. Während Chaplin zu jener Zeit eine ernsthafte Schaffenskrise zu überwinden suchte und sie schliesslich mit der Umstellung auf Langfilme überwand (wobei er in seinem bühnenverhafteten Stil verharrte), brachte Keaton frischen Wind in die Welt der Filmkomödie.
Nicht nur seine Figur war völlig anders als jene seiner Kollegen, auch sein Humor und die Funktionsweise seiner Filme. Keatons Kurzfilme brachten ein vorher nicht dagewesenes Understatement in den Slapstick ein: Die Handlung und das Tempo sind zwar weiterhin haarsträubend, doch dem begegnet die Figur Busters mit beinahe stoischer Ruhe. Auffällig, dass in Keatons Filmen kaum mehr gehampelt wurde; er brachte eine wohltuende Ruhe ins Spiel seiner Schauspielertruppe, was die umso wilderen Gags viel besser zur Geltung brachte.
So dauerte es denn nicht lange: Spätestens mit seinen Langfilmen machte Keaton dem Kollegen Chaplin, der schon viel länger im Filmgeschäft war, den Rang als oberster Filmkomödiant an der Kinokasse streitig. Ein „neuer Keaton“ war damals gleichbedeutend mit einem „neuen Chaplin“.
Chaplin war der bessere Geschäftsmann – deshalb hielt sein Ruhm länger (bis heute) vor, während Keatons Name zwischenzeitlich aus dem Gedächtnis des Kinopublikums verschwand.
Michael


Die DVD: Meine Text bezieht sich auf die DVD von Kino Internatinal (USA). Die Bildschärfe ist ganz gut, der Kontrast vermochte mich nicht zur Gänze zu befriedigen – das Bild scheint mir etwas matt. Ich vermute, die DVD wurde von einem Videoband gemastert.

Die Musikbegleitung stammt von Robert Israel und bingt die Finessen des Films sehr gut zur Geltung. Israel hat aus bestehenden Stücken eine Begleitung für Klavier und Violine zusammengestellt.

Extras: Der Langfilm Go West und der Kurzfilm The Paleface, beide von Buster Keaton.

Reginalcode: 0

Verfügbarkeit:
USA: Wie erwähnt wird The Scarecrow von Kino on Video (USA) angeboten. Man bekommt ihn direkt bei Kino, oder bei amazon (dort gibt’s den Film ab und zu gebraucht für weniger Geld).
Deutschsprachiger Raum: Auch hier ist der Film verfügbar, er ist in in der Keaton-Kurzfilm-Box (vier DVDs) von absolut medien enthalten. Dort sind wirklich sämtliche kurzen Keaton-Stummfilme vereint, auch jene, die er als Nebendarsteller für Roscoe „Fatty“ Arbuckle gemacht hat. Allerdings ist die Musikbegleitung der einzelnen Filme sehr unterschiedlich; einige der Begleitungen sind schlichtweg furchtbar und mindern den Filmgenuss, da sie sich in keiner Weise auf das Geschehen im Bild beziehen. Die Box kann auch über amazon. de bezogen werden (bei privaten Anbietern oft günstig), in der Schweiz ist sie am günstigsten hier.
Für Preisvergleiche, evtl. preisgünstigere Angebote und andere Fragen im Zusammenhang mit DVD-Bestellungen aus dem Ausland siehe auch die Tipps zur DVD-Bestellung im Ausland.