Friedrich Merz, politischer Amateur

Unter dem Titel Geld spielt eine Rolle schreibt Stefan Kuzmany bei SpiegelOnline über das Phänomen von Friedrich Merz und der aktuellen Kritik an dessen, sagen wir, eigenwilliger soziologischer Selbstverortung. Wir erinnern uns: Merz hatte in einem Interview auf die entsprechende Nachfrage bekundet, keinesfalls zur Oberschicht zu zählen, sondern sich stattdessen in der "gehobenen Mittelschicht" verortet. Es gab bereits einiges Hin und Her wo denn die Mittelschicht aufhöre und die Oberschicht anfange, und soziologisch gesehen ist es ziemlich eindeutig, dass Merz nicht zur Mittelschicht gehört - genauso wie im in der Flüchtlingskrise von so vielen bemühten "gesunden Volksempfinden", das nun plötzlich keinen Wert mehr hat. Aber dass Merz sich selbst als Mittelschicht begreift, ist wenig überraschend, das hat Tradition, und verglichen mit den sozialen Zirkeln, mit denen er sich wenigstens gerne umgeben würde, ist er als einstelliger Millionär tatsächlich eine kleine Nummer. Interessant ist Kuzmanys Artikel noch aus anderen Gründen, die ich im Folgenden aufzeigen will.
Sei es aus Neid oder schlichter Missgunst: Wohlhabend zu sein, das bringt einem hierzulande kaum Sympathien ein. Und wer auch noch den Eindruck erweckt, er genieße seinen Reichtum, der darf auf keine Gnade hoffen. Das weiß auch Friedrich Merz. Und weil der Mann CDU-Vorsitzender und dann wohl bald auch Bundeskanzler werden will, versucht er sich gerade an einer sehr deutschen Gratwanderung. Denn einerseits, davon berichtet Merz selbst gern, ist es ihm nicht schlecht ergangen in den Jahren seiner politischen Abstinenz. Er hat als Anwalt mit Aufsichtsrats- und Beraterposten bestens verdient. Das soll gern jeder wissen, denn es signalisiert ökonomische Kompetenz. Andererseits jedoch muss Merz, um bei Tante H. nicht in Ungnade zu fallen, bei allem Erfolg gefälligst ganz normal und bodenständig geblieben sein. Und jedenfalls nicht stinkend reich. Für die Rolle des bescheidenen Kapitalisten unternimmt Friedrich Merz gerade putzige rhetorische Verrenkungen. Alle redeten ständig über seine Posten in der Finanzbranche, aber niemand über seine Tätigkeit für einen mittelständischen Toilettenpapierhersteller, beklagt er sich bei Anne Will. Bei der "Bild"-Zeitung haben sie ihn gefragt, was er für eine "gute Flasche Wein" ausgebe. Merz: "Das fängt bei 4,50 Euro an." Offensichtlich will er Peer Steinbrück unterbieten, der 2012 als designierter Kanzlerkandidat der SPD geäußert hatte, keinen Pinot Grigio unter fünf Euro kaufen zu wollen - und dafür zum Großkotz der Nation abgestempelt wurde. Das soll dem netten Merz von nebenan nicht geschehen: Extra vermerkt wird, dass er mit der U-Bahn zum Interview angereist ist. Dass er Millionär ist, wollte Merz tagelang nicht über die Lippen kommen. Er ordnete sich stattdessen in der "gehobenen Mittelschicht" ein - worüber diese nur lachen konnte. (Stefan Kuzmany, SpiegelOnline)
Ich finde diese Artikel ungeheuer erheiternd. So viele "seriöse" Journalisten wollen Merz so dringend, man kann ihr Sehnen richtig durch die Artikel durchfühlen. Das habe ich das letzte Mal so erlebt, als Joachim Gauck zum einen und einzigen Heilsbringer der Republik hochstilisiert wurde (und war das eine Präsidentschaft, an die man sich noch lange erinnern wird. Nicht.). Ich verstehe auch warum. Merz ist eine Projektionsfläche für einen Politikertypus, den wir seit 10 Jahren effektiv nicht mehr haben, einen marktkonservativen Ideologen, der sich als Pragmatiker und objektiver, dem Parteienstreit entrückter Experte gibt. Weil wir - und der Rest der Welt - mit dem Typus ja so gute Erfahrungen gemacht haben.
Aber was mich tatsächlich erheitert ist diese völlige Überschätzung Merz'. Der Mann war noch nie ein A-Listen-Politiker und hat sich niemals als solcher im Rampenlicht einer echten Wahl gestellt. Und das merkt man. Ich meine, bei der SPD wäre er schon längst Vorsitzender, aber die CDU hat ja eine etwas tiefere Bank und muss deswegen nicht nach jedem Strohhalm greifen (habe ich da jemand "Schulz" raunen gehört?). Aber Merz und seine umgebenden Berater (er hat welche, oder? Ich habe schon wieder "Schulz" im Ohr) sind politische Amateuere. Dass die Aussage, er gehöre als Millionär zur Mittelschicht (ob "gehoben" oder nicht) reine Idiotie war, völlig unabhängig davon, wie wahr oder unwahr sie ist, muss jedem halbwegs professionellen Politiker klar gewesen sein. Dass Merz als jemand, der schon immer mit seiner engen Verbindung zur Wirtschaft kokettierte und seine Million nach seiner Politikkarriere mit dem Verkauf seiner Beziehungen bei einem Fond namens "Blackrock" machte, das Label des herzlosen Kapitalisten ohne Bezug zum Durchschnittsdeutschen umgehängt werden würde, war garantiert.
Dass er und seine Verteidiger in Presse und Partei das haben nicht kommen sehen, spricht nicht eben für deren Analysefähigkeit. Merz ist angesichts dessen, dass sein Typus nicht einmal mehr in der FDP auch nur ansatzweise vertreten ist, ein Geschenk für jeden auch nur halbwegs links angehauchten Politiker oder Reporter. Ein zuspitzender politischer Konflikt um diese Fragen - die künftige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und des Sozialstaates - könnte, richtig geführt, der CDU deutliches Profil gegenüber ihrer Konkurrenz nach links verleihen. Aber jeder Bierdeckel hat zwei Seiten (see what I did there?).
Und die zweite Seite ist halt, dass eine solche Profilschärfung quasi kostenlos auch das Profil der Konkurrenz schärft. Die FDP gewinnt gegen die CDU noch jeden Überbietungswettbewerb um schärfere Haushaltsdisziplin und Deregulierung, während zwar unklar ist, wer auf der linken Seite des Spektrums den meisten Gewinn hätte (eigentlich ja die SPD, aber die würde es angesichts der aktuell dort am Drücker befindlichen Hirnis schaffen, Merz vor der Kritik der LINKEn in Schutz zu nehmen), so dürfte doch klar sein, dass irgendeine dieser Gruppen profitieren dürfte. Aktion, Reaktion. Merkel weiß schon, warum sie seit 2005 auf assymetrische Demobilisierung gesetzt hat. Einmal wegen Friedrich Merz (der damals zwar Paul Kirchhof hieß, aber das ist egal) die sicher geglaubte Mehrheit gegen einen angezählten Gegner wegzuwerfen reichte ihr. Sie begnügte sich damit, die Sticherelei von den billigen Plätzen auszusitzen und ohne scharfes Profil, aber mit klaren Mehrheiten zu regieren.
Kuzmany liegt auch völlig daneben, wenn er die gewagte Behauptung aufstellt, in Deutschland herrsche ein so großer Sozialneid, dass der arme Merz deswegen keine Chance habe. Das ist schlicht nicht wahr. Selbstverständlich herrscht Sozialneid, aber nicht mehr als sonst und sicher nicht zum speziellen Nachteil Merz'. Dass er so angreifbar ist, liegt an seiner Amateuerhaftigkeit. Merz hat hier keine offene Flanke, weil er viel Geld verdient hat (und so viel ist es, wie in Kommentaren hier im Blog letzthin bereits nachgewiesen wurde, eh nicht), sondern weil seine Position dazu so unsouverän ist.
Aus Merz spricht das schlechte Gewissen dieses Geldverdienens. Seine Apologeten versuchen ihn zwar zum "Selfmade-Millionär" hochzustilisieren. Aber er hat bei einem Investmentfonds gearbeitet und machte dort seine Connections zu Geld, die er unter anderem bei der Atlantik-Brücke gewonnen hat. Beides ist, ob zu Recht oder Unrecht, für breite Teile des Elektorats ein rotes Tuch. Das kann man doof finden (ich finde etwa den Hass gegenüber der Atlantikbrücke für völlig überzogen), aber es ist Realität. Merz' Verdienste rangieren zwar auf der Igitt-Skala noch über Schröders Ausverkauf an die Putin'sche Oligarchenwirtschaft, aber wenn man die bestenfalls lauwarmen Reaktionen auf dessen Auftritte ansieht, erkennt man das Problem, vor dem auch Merz steht. Und das alles war so offensichtlich wie vorhersehbar.
Auch Merz' bekannteste politische Position, die Bierdeckel-Steuererklärung, schadet ihm mehr als sie nützt. Ja, die dahinterstehende Idee einer radikalen Vereinfachung des Steuersystems ist ungeheuer populär bei den bereits oben erwähnten Journalisten und in wirtschaftsliberalen Kreisen. Diese sind aber, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen, eine recht kleine Minderheit in Deutschland, die es in all den Jahren nie vermocht hat, Mehrheiten für ihr Projekt zu gewinnen. Eine Vereinfachung des Steuersystems ist keine populäre Idee, auch wenn es im Abstrakten stets hohe Zustimmungsraten gewinnt.
Sobald es ernsthaft in die politische Debatte eingeht wird es sofort entlang klassenkämpferischer Linien ausgeschlachtet. Die Idee, dass ein Einkommensmillionär wie Merz den gleichen (oder auch nur einen ähnlichen) Steuersatz bezahlt wie die von Gerhard Schröder seinerzeit bis zur völligen Ermüdung bemühte Krankenschwester (oder in den USA Warren Buffets Sekretärin), mag zwar volkswirtschaftlich und steuerrechtlich sinnvoll sein (ich glaube das nicht, aber nehmen wir es für einen Moment an), aber es verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der breiten Mehrheit der Bevölkerung nun einmal eklatant.
Auf die Idee zu kommen, dass Merz' Eintreten für solche Steuerreformen oder seine engen Verbindung zur Beratungs- und Finanzwirtschaft ernsthaft als Assets gelten könnten, zeugt von einer ziemlichen Realitätsferne der entsprechenden Beobachter und Politiker. Da ist der Wunsch Vater des Gedankens: Die Welt ist nicht so, wie man das will, also wird sie durch pure Willenskraft so gemacht. Das ist ironischerweise etwas, das diese Leute sonst den Progressiven vorwerfen. Dabei geht es mir nicht einmal um Sinn oder Unsinn der von Merz verkörperten Politik, sondern allein um ihre elektoralen Folgen.
Wenn ein Politiker offene Flanken hat, so klar erkennbar wie bei Merz, dann muss er diese schließen. Aber Friedrich Merz schien ernsthaft überrascht zu sein, dass man ihn auf seine Vermögensverhältnisse und seine Arbeit seit 2004 ansprach. Man kann über Mitt Romney sagen was man will, aber der Mann lief nicht unvorbereitet auf Fragen nach seiner Investmenttätigkeit in den Wahlkampf. Und selbst im Heimatland des Kapitalismus erwies sich das als eine Hypothek, die Romney gegen den klassenkämpferisch inszenierten Wahlkampf selbst eines moderaten Zentristen wie Obama nicht überwältigen konnte. Warum ausgerechnet einem Leichtgewicht wie Friedrich Merz das in Deutschland gelingen sollte, ist mir völlig schleierhaft. Und mittlerweile wohl auch einem guten Teil der CDU-Funktionäre.

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