Zum Friedenswinter und zur Demonstration am 13.12.2014 in Berlin habe ich dem Debattenmagazin le bohémien zusammen mit Lea Frings ein Interview gegeben. Wir blicken auch gemeinsam auf ein Jahr der Mahnwachen zurück, rekapitulieren die Bewegung, sprechen über Systemkritik, Geopolitik, die Linke und so genannte “Antideutsche”. Im Folgenden das Interview als Zweitveröffentlichung:
Florian Hauschild, Du bist Soziologe, Politologe, Blogger und schon länger Aktivist, u.a. bei Occupy und mit der Projektplattform Die Dezentrale im Non-Profit-Bereich tätig. Bei der Mahnwachen- bzw. Friedensbewegung wirkst Du seit Anfang an mit. Warum identifizierst Du dich mit dieser Bewegung?
Florian Hauschild: Der Geist der Mahnwachenbewegung ist der selbe wie einst bei Occupy: Beide Bewegungen sind konsensorientiert und entspringen der Netzkultur. Genau wie Occupy kritisiert die Mahnwachenbewegung den Finanzkapitalismus und das Geldsystem. David Graeber, ein bekannter Occupy-Aktivist und Ethnologe aus den USA hat mit dem Buch “Schulden – die ersten 5000 Jahre” 2011 ja schon ein wichtigen Debattenbeitrag geleistet. Spätestens Ende 2012 ist Occupy jedoch vollends eingeschlafen. Die letzte große Occupy-Aktion war die dreimonatige Occupy Berlin Biennale bei der ich auch gestalterisch mitgewirkt habe. Mit der Mahnwachenbewegung kam es zu einer neuen Welle des außerparlamentarischen Protestes. Klar, dass ich da dann dabei bin.
Wie Du richtigerweise erwähnst habe ich auch die solidarökonomische Projektplattform “Die Dezentrale” in Berlin mit aufgebaut. Hier geht es um die Erprobung, Weiterentwicklung und Umsetzung nicht-profitorientierten, gemeinwohlorientierten Wirtschaftens. Da neue Formen des Wirtschaftens neben der Geldsystemkritik, der Medienkritik und der Forderung nach Frieden auch zentrale Anliegen der Mahnwachenbewegung sind, deckt sich meine Arbeit sehr mit meinem Bewegungs-Engagement. Viele Mahnwachenaktivisten sind auch regelmäßige Gäste in der Dezentrale oder Kunden in unserem Not-for-Profit-Teeladen Chasinho.
Lea Frings, Du bist mit vielen Reden eine der auffälligeren Protagonisten in der Friedensbewegung, in der Linken aktiv und seit kurzem Reporterin für den Ableger des russischen Staatssenders “RT deutsch”. Lernt man sich – wie Du und Florian Hauschild – in dieser Szene zwangsläufig kennen?
Lea Frings: Nun, ich bin seit meinem 16. Lebensjahr in der antifaschistischen Bewegungen aktiv gewesen. Ich habe mich an den Protesten zum G8-Gipfel in Genua und dem EU-Gipfel in Brüssel 2001 beteiligt. Dann war ich in aller der Zeit auch immer aktiv gegen Kernenergie.
In diesem Jahr bin ich gemeinsam mit meinem Lebensgefährten Marsili Cronberg zu vielen Mahnwachen in ganz Deutschland als Rednerin eingeladen worden. Da lernt Frau so einige Leute kennen – auch einen Florian Hauschild (grinst).
Warum gibt es seit 2014 wieder eine neue Friedensbewegung?
Florian Hauschild: 2014 war das Jahr, in dem die aggressive imperialistische Politik der USA und damit auch der EU und Deutschland neue Dimensionen erreicht hat. Schon in den Jahren davor konnte man beobachten, dass in den westlichen Medien Russland mehr und mehr als der neue globale Buhmann aufgebaut wurde. Hier wird schon lange an einem neuen Feindbild gearbeitet. Durch den Umsturz in der Ukraine kam es dann sozusagen zum offenen medialen Schlagabtausch der Großmächte mit Russland auf der einen, und mit den NATO-Staaten auf der anderen Seite. In den deutschen Medien wurde dieser Konflikt jedoch sehr tendenziös dargestellt. Man kann hier durchaus von dreister Propaganda sprechen, von Konzernmedien die sich mit den Herrschaftsinteressen schamlos gemein machen.
Auf den Diskussionsplattformen im Internet heizte sich die Stimmung Anfang des Jahres dadurch mehr und mehr auf. Normale Menschen fühlten sich von den Konzernmedien bzw. von den Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr ernst genommen sondern betrogen. Dies kumulierte schließlich in einem neuen Protestpotential. Da die klassische Friedensbewegung den Anschluss an die neuen, digitalen Medien weitestgehend verschlafen hat, entstand hier ein Vakuum. Es war dann eher Zufall, dass Lars Mährholz die Zeichen der Zeit erkannte und zu den ersten Mahnwachen für den Frieden in Berlin aufrief. Hieraus erwuchs in einem chaotischen aber schönen Prozess in den kommenden Monaten die Neue Friedensbewegung, die Mahnwachenbewegung oder auch die Friedensbewegung 2.0, wie manche sie nennen.
Lea Frings: Weil es leider notwendig geworden ist. Ich erinnere mich, dass ich mich vor c.a. eineinhalb Jahren politisch mit anderen Dingen befassen konnte. Damals engagierte ich mich vor allem für die Energiewende – um Frieden dauerhaft zu sichern, mit globaler Nahrungsmittelgerechtigkeit, weil ich die Hoffnung hatte, dass wir auf eine bessere Zeit zusteuern. Nun 2014 muss ich feststellen, dass wir uns in einem Zeitalter globaler Angriffskriege befinden, und dass wir nun wieder gezwungen sind um unser Menschenrecht – um den Frieden zu kämpfen.
Unsere Gesellschaft hat in diesem Jahr enorme Rückschritte gemacht. Heutzutage wird sogar wieder Russland als Feind gesehen. Rassistische Demonstrationen nehmen zu. Die Presse betreibt regelrechte Kriegshetze. Es scheint dass mit der Ukraine-Krise vieles ausgebrochen ist, was lange im Verborgenen gären konnte.
Die alte Friedensbewegung, mit der nun der Schulterschluss gesucht wird, war zum Teil hochpolitisiert, und hatte klare politische Forderungen, wie sich auch heute noch Andreas Grünwald stellt. Ganz anders dagegen Lars Mährholz: Der betonte in einem Interview mit dem verschwörungstheoretischen Filmemacher Frank Höfer, der mit seinem dubiosen Format „NuoViso“ die Bewegung begleitet, dass die „Mahnwachenbewegung“ nicht scheitern könne, weil sie kein „klar definiertes Ziel“ hätte; Ziel sei es vielmehr, die Leute zu „erwecken“, da auch er, wie er immer betont, einige Dinge „erkannt“ habe. Das klingt wenig aufklärerisch, sondern eher missionarisch, zumal er mit dem „Erkennen“ offen und wörtlich auf die „Wahrheitsbewegung“, die sogenannten „Truther“ rekurriert.
Florian Hauschild: Lars Mährholz, den ich als Freund sehr schätze, beschrieb seine Rolle einmal passenderweise als “Wecker”. Ich denke, das trifft es ganz gut. Und es ist wohl kaum von der Hand zu weisen, dass sich weite Teile der Gesellschaft in einem politisch-bewusstseinsmäßigen Tiefschlaf befinden. Anders wäre es nicht zu erklären, dass wir sechs Jahre nach Lehman noch immer ein praktisch an die Wand gefahrenes Finanzsystem künstlich am Leben halten und ein Wirtschaftsmodell leben, das – bleibt es so bestehen – spätestens unseren Enkeln massive ökologische und soziale Katastrophen bescheren wird. Die nächsten wirtschaftlichen Krisen treten wahrscheinlich schon früher ein und können vielleicht sogar zu einem Umdenken beitragen. Aber genau für dieses Umdenken braucht es auch eine aktive Bewegung, die Alternativen erdenkt, erprobt und zur Debatte stellt. Ich finde sehr wohl, dass man genau dies erkennen sollte und dass damit auch wichtige Wahrheiten angesprochen werden. Zugegeben auch schmerzhafte Wahrheiten, denn die Systemkritik der Mahnwachenbewegung erfordert auch ein Überdenken der eigenen Lebens- und Konsumgewohnheiten.
Es ist richtig, dass die klassische Friedensbewegung stärker in der Analyse der Geo- und Rüstungspolitik ist, und sich deshalb wunderbar mit der Mahnwachenbewegung ergänzen kann. Hier lassen sich auch leichter wichtige bereichspolitische Etappenziele formulieren. Deshalb sollte man aber nicht alle Ansätze, die sich mit innerem Frieden oder der eigenen verantwortungsvollen Lebensweise beschäftigen als “esoterisch” vom Tisch wischen. Gerne werden Ideen, die sich nicht in eine vorgefertigte politische Schublade packen lassen, ins Lächerliche gezogen. Das sieht man auch ansatzweise an der Art und Weise, wie diese Frage oben gestellt ist.
Lea Frings: Zur Ergänzung: So hochpolitisch war die klassische Friedensbewegung auch nicht. Oftmals wurde sich auch hier auf einen Minimalkonsens geeinigt. Es gab eine klare Abgrenzung nach rechts. Genau wie bei denn Mahnwachen, was unter anderem der Weitersorder Erklärung zu entnehmen ist.
Das mag durchaus stimmen. Doch was wird denn genau als „Wahrheit“ verkauft? „Weckt“ man die Leute, ersinnt man brauchbare Alternativen, wenn man – wie Mährholz – allen ernstes die Behauptung von der Allmacht der FED als Systemkritik verkauft? Das erinnert mehr an Rattenfängertum als an eine informierende Gegenöffentlichkeit.
Florian Hauschild: Eines der ersten Gespräche, das ich mit Lars geführt habe, nachdem ich ihn auf der dritten oder vierten Berliner Mahnwache kennengelernt hatte, drehte sich genau um dieses Thema: Meiner Meinung nach ist es sinnvoller, die Überwindung des verzinsten Schuldgeldsystems und der multiplen Giralgeldschöpfung zu fordern. Da war die FED-These ein Schritt auf dem Weg dahin. Die Debatten in der Mahnwachenszene drehen sich längst nicht mehr um die FED, wohl aber weiterhin sehr lebendig um das Finanz- und Geldsystem. Und das ist auch gut so.
Lea Frings: Ich denke dass diese Bewegung gemeinsam lernt. Sie stellen Fragen. Und oft stellt sich dann heraus, dass man auf dem Irrweg ist. Meiner Meinung nach war diese FED-These eher ein Symbol – eines welches politisch erfahrenere Leute vielleicht nicht gewählt hätten – aber letztenendes geht und ging es hier um Kapitalismuskritik. Und da müssen dann auch erfahrene Leute vor Ort sein um z.b. vor rechten Rattenfängern zu warnen, die so etwas für antisemitische Argumentationsketten missbrauchen wollen.
Ist das der Grund, warum nun der Schulterschluss mit den Aktivisten der alten Friedensbewegung wie Konstantin Wecker und Reinhard Mey gesucht wurde?
Lea Frings: Es gibt viele gute Gründe mit der klassischen Friedensbewegung zusammen zu arbeiten. Ich habe großen Respekt vor der Arbeit vieler “alter” AktivistInnen – ich freue mich wenn Sie ihre Erfahrung einbringen. Ich hoffe, dass auch den AktivistInnen der Mahnwachen von Seiten der alten Friedensbewegung respektvoll begegnet wird, denn auch sie haben in diesem Jahr viel geleistet.
Mit der FED als Wurzel allen Übels zu poltern, war ein Schritt, der – kaum überraschend – für Irritationen in der Presse und bei den Linken gesorgt hat. Und die sogenannten “Antideutschen” sprechen von “verkürzter Kapitalismuskritik” und einem antisemitischen Geist der Mahnwachenbewegung. Man hätte sich einen Großteil der Kritik und Berührungsängste in der politischen Öffentlichkeit ersparen können, wenn man solche Verschwörungstheorien unterlassen hätte, anstatt sie jetzt schön zu reden…
Florian Hauschild: Richtig ist, dass viele Linke einer verkürzten Kapitalismuskritik anhängen. Zumindest dann, wenn es sich um dogmatische Marxisten handelt. Dann nämlich haben sie meist nur die Spähre der Produktion bzw. der Produktionsmittel im Blick und ignorieren das bestehende Schuldgeldsystem mit seiner multiplen Giralgelschöpfung und den Zinseffekten. Eine umfassende Kritik der bestehenden Korruptokratie muss ökonomisch, politisch und auch geldsystemkritisch sein – und muss zudem auch das bestehende Konzern-Mediensystem im Blick haben. Am besten auch noch das Bildungssystem. Alles andere ist verkürzt.
Was diese so genannten “Antideutschen” mit “links” zu tun haben sollen, ist mir indes vollends schleierhaft. Meiner Meinung nach sind das lediglich neokonservative Propagandisten. Es ist mit Sicherheit nicht Aufgabe der Mahnwachen solchen politischen Irrläufern zu gefallen.
Lea Frings: Es gibt dort Vordenker – das sind dann gerne auch mal linke Parteimitglieder, die gleichzeitig Mitglied der Atlantikbrücke e.V sind. Ich frage mich, wie das zusammen geht. Das kann man eigentlich nur erklären, in dem man versteht, dass ihre Agenda eben keine linke ist. Hier haben wir es klar mit Unterwanderung zu tun.
Das Problem ist, dass wir es hier allzu oft mit Transatlantik-Hipstern zu tun haben. Sie haben eigentlich wenig politischen Background, oder nur sehr einseitigen, halten sich aber für “krasse” Linke. Dass sie dabei mit ihrer uneingeschränkten Solidarität zu ausschließlich zwei Nationen – USA und Israel – einfach nur NationalistInnen sind, die dazu auch noch rassistische Politik unterstützen ist vielen nicht mal bewusst. Echte Kapitalismuskritik wird von ihnen schlicht als antisemitisch” oder “verkürzt” diskreditiert. Die Antideutschen, die ich auf Gegendemos gesehen habe, waren wirklich noch politische Kinder. Sie merken gar nicht, dass sie zur Zersetzung linker Strukturen missbraucht und zu transatlantischen Erfüllungsgehilfen gemacht werden.
Die “Antideutschen” haben immerhin keinen unerheblichen Einfluss auf die Linkspartei als auch auf das von Dir, Florian, so genannte “Konzernmediensystem”.
Florian Hauschild: Das ist ein Problem das die Linkspartei zu klären hat. Die Kritik am Medienkartell des Herrschaftssystems übernehmen wir mit den Mahnwachen weiterhin gerne. Etwa wenn es um die Verstrickung des deutschen Alpha-Journalismus mit der Atlantikbrücke geht. Aber das ist ja momentan auch Thema in der Partei DIE LINKE, wo – wie Lea es auch gerade thematisierte – ebenfalls einige Mitglieder diesem NATO-Think-Tank angehören. Delikaterweise sind das genau jene Akteure, die keine Gelegenheit auslassen die Friedensbewegung zu diskreditieren. Ob das wirklich nur Zufall ist? Pedram Shahyar hat dazu kürzlich ein Video gemacht.
Lea Frings: Die Linke wird sich entscheiden müssen – entweder sie führt die Auseinandersetzung innerhalb der Partei, was durchaus erst einmal viel Ärger erzeugen und auch vorübergehend Wählerstimmen kosten kann – oder sie wird eine Partei sein, die “DIE LINKE” heißt, aber nicht mehr links ist.
Ein Großteil der Bevölkerung stimmt mit den zielen der Linken überein – trotzdem spiegeln die Wahlergebnisse das nicht wieder. Warum? Weil die BürgerInnen der Linken die Umsetzung im Moment einfach nicht zutrauen. Eine handzahme Linke auf Regierungskurs (und damit auf Kriegskurs) hat für die Menschen keinen Gebrauchswert mehr.
Bisher haben sich eher kleine Qualitätsmedien oder Intellektuelle wie Noam Chomsky mit profunder Kritik an den Medienstrukturen hervorgetan. Aus den Reihen der Mahnwachenbewegungen waren eher – sagen wirs nett – unglücklich formulierte Allgemeinplätze zu hören. Wirklich ernst wird das Treiben der Mahnwachenbewegung bisher jedenfalls nicht genommen. Ist da also die Kritik von Jutta Ditfurth, auf die hier offensichtlich auch angespielt wird, nicht ganz unberechtigt?
Florian Hauschild: Es ist bei einigen Mahnwachen-Gegnern Usus, besonders sinnfreie Beiträge herauszufiltern und gezielt zur Schau zu stellen. Wer will, findet im Netz und auf den Straßen jedoch eine schier unüberblickbare Menge inhaltlich fundierter Reden, Schriftstücke, etc. Was die Mahnwachenbewegung hier in nicht mal einem Jahr an Content erzeugt hat, ist beispiellos. Damit lässt sich übrigens auch leicht die ruhige Zeit zwischen den Jahren überbrücken. Ich kann immer nur empfehlen, sich selbst ein Bild von den Mahnwachen zu machen. So genannte “Kritiker”, die bisher nicht mal eine einzige Veranstaltung selbst besucht haben, kann ich beim besten Willen nicht ernst nehmen.
Aber die Kritik kam ja nicht von ungefähr und zudem von vielen Seiten. Das ließ sich auch der sehr differenzierten aber ebenso bezeichnenden Stellungnahme Konstantin Weckers im April entnehmen, der seine Bedenken bzgl. Ken Jebsen und vor allem Jürgen Elsässers gegenüber zur Sprache brachte.
Lea Frings: Und auch Wecker hat – wenn ich mich recht erinnere – seine Stellungnahme später korrigiert. Wir alle lernen gemeinsam. Auch ich habe früher schnell geglaubt was im Allgemeinen über einen Menschen geschrieben wird. Aber da beginnt schon der Fehler. Mann muss sich die Zeit nehmen und genau hinschauen. Man darf sich nicht Interview-Ausschnitte oder Ausschnitte aus Facebook-Konversationen als “Beweise” für etwas andrehen lassen. Auch wenn es Mühe macht – man muss sich genau ansehen was die Menschen im kompletten Kontext selbst zu sagen haben. Und dann kann man sehr genau erkennen, wer auf einer Friedensdemonstration vertreten sein sollte und wer nicht.
Ist es nicht eher so, dass in der Peripherie einfacher Weltbilder, die von einigen Leitfiguren propagiert werden, ideologische Obdachlosigkeit herrscht? Statt einer großen intellektuellen Erzählung ein Sammelsurium an esoterischen Subkulturen und Milieus, das die Linke schon immer umgeben hat. Dann ist es Trend der neuen sozialen Bewegungen, dezentrale Strukturen und basisdemokratische Entscheidungsfindung hochzuhalten. Eine politische Orientierung wird in Anlehnung an die 99% abgelehnt. Das immer wieder rezipierte Zauberwort ist „Schwarmintelligenz“. Ist nicht genau das der Grund, warum irgendwann auch Occupy versandete? Und gilt es daraus Lehren für die Friedenswinterdemo am 13.12. zu ziehen, wo die Bewegung unter neuem Label ihrem vorläufigen Höhepunkt erreichen soll?
Lea Frings: Wir leben in einer Zeit, in der wir noch nie so frei waren, uns zu informieren – und gleichzeitig ein Großteil der Menschen so unfähig war, Nachrichten und Informationen zu bewerten und einzuordnen. Auch sind reine Merheitsenscheidungen für viele nicht mehr zufriedenstellend. Konsens ist aber leichter in kleineren Gruppen zu erreichen. Aber die Gesellschaft lernt – und sie lernt gemeinsam. Es fing an mit Occupy, ein gutes Beispiel waren auch die Blockupy Aktionstage 2013, wo auch in heiklen Demo-Situationen (dass die Polizei da nicht zimperlich ist da noch sehr milde ausgedrückt) immer in kleinen Bezugsgruppen abgestimmt – also ein Konsens gefunden wurde und diese Gruppen sich wieder miteinander abstimmten.
Lea, Du redest von der Notwendigkeit, Nachrichten und Informationen kritisch bewerten zu können. Wie bewertest Du vor diesem Hintergrund Dein Mitwirken bei “RT deutsch”? Der Sender ist doch alles andere als ein freies Medium?
Lea Frings: Ich kann natürlich nur für mich, und nicht für die Redaktion von RT deutsch sprechen. Aber was bitte ist denn ein freies Medium? ARD, ZDF? Und was passiert mit ChefredakteurInnen dort, die sich der politischen Einflussnahme widersetzen?! Das sind genau so Staatssender wie die Deutsche Welle.
Ich habe bisher nur erlebt, in meiner Arbeit frei recherchieren zu dürfen. Das ist für mich auch Voraussetzung. Ich bin ein typischer Freigeist, der nur arbeiten kann, wenn er sich frei fühlt.
Von KollegInnen anderer großer Medien wurden mir ganz andere Zustände berichtet. Einige haben dort große Probleme. Gegen sie werden Intrigen gesponnen oder sie müssen um ihren Job fürchten, wenn ihre Recherche nicht zur Redaktionslinie passt.
Wie reagiert Ihr auf Herausforderungen wie jene in Nahost? Ist ein bedingungsloser Pazifismus angesichts der Gräueltaten der IS noch angebracht?
Florian Hauschild: Der IS ist das Ergebnis jahrzehntelanger verfehlter Nahostpolitik. In imperalistischer Weltenlenkermanier versucht der Westen, hier Regime nach seinem Gusto und den eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen dienend zu gestalten und verspricht dabei Verbesserungen der Lebensqualität für die Bevölkerung. Sei es Irak, Afghanistan oder Lybien – überall scheiterte diese kriegerische, aggressive Politik. Auf dem Nährboden dieser Failed States gedeihen dann faschistoide Terrorkartelle wie der IS, der – darauf deutet vieles hin – von Katar und Saudi-Arabien gefördert wurde oder wird, die wiederum Partner des Westens sind. Die Golfstaaten haben durchaus Einfluss auf den IS. Aber man will ja nicht die FIFA und Sepp Blatter verärgern, also unterlässt man es beispielsweise um den Preis der WM, Katar diplomatisch unter Druck zu setzen, seinen Einfluss in der Region geltend zu machen um so den IS zu stoppen. Stattdessen scheint Krieg schon wieder die einzige Option. Dabei war Krieg doch die Ursache für den Status Quo. Mir leuchtet diese Argumentationskette nicht ein.
Das Problem IS ist längst auch ein innenpolitisches, und polarisiert die Gesellschaft. Indirekt haben das unlängst auch die Initiatoren der Mahnwachenbewegung zu spüren bekommen. Diese haben immer wieder betont, von Links- und Rechtsschemata Abstand nehmen zu wollen. Dann hat Jürgen Elsässer die Teilnehmer der Hogesa-Demo in Köln zu einer “Friedensdemo” nach Berlin eingeladen. Danach hatte sich Mährholz öffentlich von Elsässer distanziert. Beweist diese Inkompatibilität nicht, dass Links- Rechts-Gegensätze eben doch unvereinbar sind?
Florian Hauschild: Die Mahnwachenbewgung hat sich schon sehr früh einen humanistischen Grundkonsens gegeben. Dieser wurde beim ersten überregionalen Orgatreffen in Weitersroda Ende Juni 2014 noch einmal formuliert.
Wer den humanistischen Grundkonsens offen missachtet, kann kein Teil der Mahnwachenbewegung sein. Die Einladung von gewaltbereiten Hooligans zu einer Demonstration ist ein solches Brechen des Grundkonsens. Dass die Organisatoren von der besagten Demo nicht klar Abstand von diesem Vorhaben genommen haben, ebenso. Aus diesem Grund wurde am 29. Oktober eine mahnwachenübergreifende Erklärung formuliert, die über 200 Aktivisten unterzeichnet haben. Was sich innerhalb des humanistischen Grundkonsens befindet, kann auf Mahnwachen zur Debatte gestellt werden. Dafür sind Mahnwachen da. Das Sinnvollste wird sich schon durchsetzen.
Lea Frings: Erschreckend ist, dass aktuell Zehntausende lieber gegen eine vermeintliche Islamisierung auf die Strasse gehen – als für den Frieden. Das ist klar die Folge von antimuslimischer Propaganda, die eifrig geschürt wurde, um die imperialistischen Angriffskriege, die immer wieder das Völkerrecht verletzen, zu rechtfertigen. Es ist fast lustig, dass die Leute, die da vermeintlich gegen das System demonstrieren – weil der Staat angeblich “nicht genug gegen Muslime tut” – überhaupt nicht merken, dass sie da einem vom System etablierten Feindbild aufgesessen sind. Aber leider ist es viel zu ernst angesichts von Millionen Toten dieser Angriffskriege, um noch über diese Gegebenheit schmunzeln zu können. Wer Feindbilder aufbaut oder pflegt gehört nicht auf eine Friedensdemo.
Im Oktober dieses Jahres wurde auf der Aktionskonferenz der Kooperation für Frieden, sozusagen dem Dachverband der klassischen Friedensbewegung der “Friedenswinter” beschlossen. Was hat es damit auf sich, und welche Rolle spielt dabei der 13. Dezember 2014?
Florian Hauschild: Der Friedenswinter ist ein mehrmonatiges Aktionsprogramm dessen detaillierter Aufruf sich auf der Homepage findet. Im Kern geht es natürlich um die Forderung nach Frieden und ein Ende der Konfrontationspolitik mit Russland. Den Aufruf haben zum jetzigen Zeitpunkt über 2000 Menschen unterschrieben. Unter dem Aufruf findet sich auch das gesamte Aktionsprogramm des Friedenswinters. Ein erster Höhepunkt ist der dezentrale Aktionstag am und um den 13.12.2014. Demonstriert wird u.a. in Hamburg, München, Leipzig, Bochum und Heidelberg. In Berlin treffen wir uns um 13 Uhr am Washingtonplatz (Hauptbahnhof) und laufen dann gemeinsam zum Schloss Bellvue, dem Amtssitz des Kriegspräsidenten Joachim Gauck. Dort wollen wir ihm unter anderem “den Schuh zeigen”. Nur zeigen, nicht werfen! Das Zeigen des Schuhs gilt im arabischen Kulturraum als Zeichen tiefster Verachtung. Genau diese tiefste Verachtung verspüren wir auch für die Politik von Herrn Gauck. Dies ist im Berliner Aufruf für den 13.12. dann auch nochmal detailliert ausformuliert.
Das Zeigen des Schuhs ist in Zeiten antimuslimischer Hetze und islamfeindlicher Demonstrationen natürlich auch ein schönes Zeichen kulturübergreifender Integration von Protestsymbolen. Vielleicht sehen unsere ägyptischen Freundinnen und Freunde ja später die Bilder im Netz und freuen sich darüber. Wie man ja oft sagt: Tahrir ist nicht nur ein Platz!
Aber am 13.12. gibt es selbstverständlich auch zahlreiche Redebeiträge. Unter anderem von Eugen Drewermann, dem bekannten Theologen. Und auch Musik. Das wird ein schönes Fest. Kommen lohnt sich!
Lea Frings, Florian Hauschild, vielen Dank für dieses Gespräch
Die Fragen stellte Sebastian Müller
Quelle: le-bohmien.net
Zum Thema:
Der neue Kurs der Mahnwachenbewegung: Frieden, Bedingungsloses Grundeinkommen & Schulterschluss mit der klassischen Friedensbewegung
Die Mahnwachenbewegung: Eine Zwischenbilanz – oder: Eine Friedensbewegung in der Pubertät
Diesen Blog unterstützen:
Bitcoin: 1F3XLmGCKL8JV3YsFoL1LHLNSvy4SPVwMc