Die Verleihung des Friedensnobelpreises ist die traditionelle Verweigerungshaltung, die Wirklichkeit als das zu sehen, was und wie sie ist. Das war nie anders. Man könnte Kissingers Friedensliebe ante bellum als Beleg angeben. Oder Obamas a priori verliehenen Preis zur Ermutigung ebenjener Friedensliebe. Das Triumvirat um Arafat war ein ähnlicher Akt. Zuletzt dann die Auszeichnung Sirleafs, die den Restpostenausverkauf ihres Landes leitet. Die Auszeichnung der Europäischen Union ist nicht nur einer Wirklichkeitsblindheit geschuldet, sondern obendrein ein Akt von vielleicht historischer Angemessenheit, allerdings tagespolitischer Steigbügelhaltung. Sie ist Interpretation und Ausdeutung eine Institution, die Frieden mit Deregulierung, Privatisierung und Freihandel verwechselt. Dass die Auszeichnung ausgerechnet dieser Tage erfolgte, nachdem die EU schon jahrelang nominiert war, ist als politischer Akt der Reinwaschung und Aufwertung zu begreifen.
Die Troika, die in Schieflage geratene Staatshaushalte unter Kuratel der Europäischen Union mittels typisch Chicagoer Schulwissen sanieren will, die also Privatisierungen vorsieht, deregulieren möchte, den Freihandel stützt und ausweitet, die niedrige Löhne und Sozialleistungen anmahnt, ein schmales Gesundheitswesen vorbetet, Renten von denen man leben kann als Luxus deklariert, Arbeitslosigkeit anfacht und Perspektivlosigkeit schürt - kurzum, diese EU-Troika schafft einen seltsamen Frieden. Ist es Frieden, wenn Legionen von Menschen in Selbstmord getrieben werden? Wenn sie Angst vor knurrenden Mägen haben? Sich Medikamente nicht mehr leisten können? Ist es ein erwiesener Aspekt des Friedens, dass man eng geschnallten Gürteln rät, nochmals ein Gürtellöchlein enger zu schnüren?
Wahrscheinich muss man Frieden definieren, um ihn dann als das einzuordnen, was gerade gemeint ist. Das ist wie mit der Freiheit, die für manchen schon beginnt, wenn man Ketten löst, die aber für andere noch ein Auswurf von Unfreiheit ist, weil ohne Mittel, ohne Zugang zur Teilhabe, noch kein freiheitlicher Lebensentwurf möglich ist. Frieden kann somit auch sein, rumorende Straßenzüge und aufwallende Plätze halbwegs polizeilich oder militärisch im Griff zu halten. Militärischer Frieden herrscht ja zweifelsohne ziemlich in Europa - und der soziale Friede, den das Europa der Konzerne und Banken dauerhaft untergräbt, jetzt da die Krise brodelt, schon vorher, als man die Freihandelsverfassung Lissaboner Art durchpresste? Und ist eigentlich Frontex ein Friedensprogramm?
Historisch betrachtet kann man zustimmen. Die EU war zwar immer ein wirtschaftlicher Zusammenschluss. Doch gemeinsame Interessen zu hegen, das verband Europas Völker ganz ohne Zweifel. Bevor man nun schoss, bevor man nun einmarschierte - was nach dem Blutzoll beider Weltkriege ohnehin so schnell nicht mehr geschehen wäre! -, wog man die gemeinsamen Interessen ab, sprach sich ab, einigte sich. Vereinfacht gesagt jedenfalls. Aber die Europäische Union just in jenem Moment auszuzeichnen, da ihr historischer Wert ins Hintertreffen gerät, weil ihr tagespolitischer Qualitätsverlust überwiegt, ist schon mehr als Chuzpe. Es ist die Modellierung der Gegenwart, wie man sie sich wünscht, wie sie aber nicht ist. Der Friedensnobelpreis ist seit Jahrzehnten das Vorhaben, Frieden als das zu deuten, was die herrschende Ordnung als Frieden akzeptiert. So erklärt sich Kissinger; so erklärt sich Sirleaf - und so erklärt es sich, dass eine Institution belobigt wird, deren beste Zeiten passé sind und deren erklärte Zukunftsaussicht es ist, ein straff kosteneffizientes Europa zu entwerfen.