Fremde Federn: Wut auf die Glaskugel

Fremde Federn: Wut auf die GlaskugelNiemand musste es aus Knochen lesen, keiner war auf eine Glaskugel angewiesen. Als der Tscheche Vaclav Klaus im Februar vor drei Jahren vor das Europäische Parlament trat, galt es nur, zuzuhören. Von Staatsschuldenkrise und Griechenland, von Rettungsschirmen und knirschendem Kreditgebälk war noch nirgendwo die Rede. Nur Klaus, damals amtierender EU-Ratspräsident, führe im Detail aus, wo die Europäische Union stand und wo sie sich im Begriff war hinzuentwickeln.
Der Tscheche klagte über das "nicht kritisierbare Dogma, die gegenwärtig vorhandene institutionelle Anordnung der EU als ein für alle Male zu betrachten". Das stehe im absoluten Widerspruch sowohl mit der rationellen Denkweise als auch mit der mehr als zwei Jahrtausende dauernden Geschichte der Entwicklung der Europäischen Union, sagte er. Ebenso ein Irrtum sei die stets postulierte, und deshalb ebenso nicht kritisierbare Annahme über "eine einzige mögliche und richtige Zukunft der Entwicklung der europäischen Integration", die in der „ever-closer Union“ oder in dem Fortschreiten der immer tiefer gehenden politischen Integration der Mitgliedsländer bestehe.
Klaus ahnte offenbar etwas. Unter den Buhrufen seiner Parlamentskollegen stritt er dafür, weder den vorhandenen Zustand noch das Postulat einer ständigen Vertiefung der Integration" für unanzweifelbar zu erklären. Niemand sei der „Besitzer der Schlüssel“ zur europäischen Integration sehen, niemand wisse im voraus, welcher Weg der einzig richtige sein dürfe.
Warum das niemand ausspreche? "Das heutige System des Entscheidens in der Europäischen Union ist etwas anderes, als das von der Geschichte geprüfte und in der Vergangenheit erprobte System der klassischen parlamentarischen Demokratie." Klar benannte Klaus die Unterschiede: In einem normalen parlamentarischen System gebe es einen Teil der Abgeordneten, der die Regierung unterstützt und einen oppositionellen Teil, nicht aber so im Europäischen Parlament. "Hier wird nur eine Alternative durchgesetzt und wer über andere Alternativen nachdenkt, wird als Gegner der europäischen Integration angesehen."
Ein Mann, der den Teufel an die Wand malt, so kam Vaclav Klaus damals rüber. Kaum jemand hörte oder las seine Rede, in den Medien ging er als Sonderling und Querkopf durch, mehr Raum als der Inhalt seiner Ansprache erhielten die lärmenden Proteste dagegen.
Dabei sprach Klaus aus der Erfahrung eines Mannes, der sein Leben in einem politischen System verbracht hat, "in dem jegliche Alternative unzulässig war und wo es aus diesem Grund auch keine parlamentarische Opposition gab". In der Tschechei habe man die bittere Erfahrung gemacht, dass dort, wo es keine Opposition gibt, die Freiheit verkomme, sagte er: Deshalb müsse es immer politische Alternativen geben.
Aber es gibt sie nicht, weil sie für unzulässig erklärt werden. Europa kennt nur eine Richtung wie ein Ruderer, der seinen Kurs nicht korrigieren und schon gar nicht wenden kann. Klaus glaubte schon vor drei Jahren, dass "zwischen den Bürgern und den Repräsentanten der Union ein Abstand existiert, der wesentlich größer ist als innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten". Doch weil es kein europäisches Volk gebe, stelle auch eine Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments keine Lösung für diesen Defekt dar.
Der Kernpunkt seiner Rede und der Grund für die wütenden Schreie von Parlamentskollegen wie Daniel Cohn-Bendit, der Klaus einen Karnevalsredner nannte, war aber wohl die Passage, in der der Tscheche seine Furcht davor ausdrückte, dass die von oben erzwungene Verschmelzung der Nationalstaaten zu einem europäischen Bundesstaat das Gegenteil dessen erreichen würde, was seine Initiatoren zum Ziel haben: "Die Versuche, die Integration immer weiter zu beschleunigen und zu vertiefen und die Entscheidungen über die Lebensbedingungen der Menschen in den EU-Ländern in immer größerem Umfang auf europäische Ebene zu verlagern, könnten in der Folge alles Positive gefährden, was in den letzten 50 Jahren in Europa erreicht worden ist."
Weit weg vom Leben, im Bürokratenbrüssel, wollte niemand eine Warnung hören, doch "die Befürchtungen der Menschen in verschiedenen Mitgliedsländern, dass über ihre Angelegenheiten wieder wo anders und ohne sie entschieden wird und dass ihre Möglichkeit diese Entscheidungen zu beeinflussen, nur sehr begrenzt sind", zu unterschätzen. Wieso sollten Menschen in Europa wohl denken, dass "das Projekt der Europäischen Union nicht ihr Projekt ist"?
Vielleicht, wie Klaus meint, weil "das heutige wirtschaftliche System der EU ein System des unterdrückten Marktes und der kontinuierlichen Stärkung der zentralen Lenkung der Wirtschaft ist". Das Ausmaß der Einschränkung der Spontaneität der Marktprozesse und das Ausmaß der politischen Reglementierung steige ständig. "Zu dieser Entwicklung trägt in den letzten Monaten auch die falsche Interpretation der Ursachen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise bei; als ob diese der Markt verursacht hat, während die wahre Ursache das Gegenteil ist: nämlich die politische Manipulation des Marktes."
Durch die Staaten natürlich, die billiges Geld herbeimanipuliert haben - angefangen bei der West LB und der Sachsen LB bis hin nach Athen und Madrid. Mit von heute aus gesehen schon fast verzweifelt anmutender Bestimmtheit appellierte Vaclav Klaus seinerzeit an die gewählten Volksvertreter: "Wir waren immer der Meinung, dass die Möglichkeit über diese wichtigen Fragen diskutieren zu dürfen, gehört zu werden und jedem den Raum zur Darlegung einer anderen als der „einzig richtigen Meinung“ einzuräumen, eben jene Demokratie ist, die uns über vier Jahrzehnte hinweg verwehrt worden war. Wir haben uns durch diese unfreiwillige Erfahrung während eines großen Teils unseres Lebens überzeugt, dass der freie Austausch von Meinungen und Ideen die Grundvoraussetzung für eine gesunde Demokratie ist. Wir glauben, dass diese Prämisse auch in der Zukunft geachtet und respektiert wird."


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