Es geht um ein seltsames Phänomen, das den Aufständen von Tunesiern und Ägyptern wie ein Schatten folgt: Plötzlich wünschen sich alle die Einführung der Demokratie in der arabischen Welt, nicht von selbst, sondern von außen. "Das wollte auch George W. Bush, als er in den Irak einmarschierte", erinnert nun Herzinger. Damals aber habe seine Vision als "imperialistisch" gegolten.
Man traut seinen Augen und Ohren kaum. Über Nacht scheint sich die deutsche Öffentlichkeit in ihrem Abscheu vor der jahrzehntelangen Komplizenschaft des Westens mit arabischen Diktaturen einig zu sein. Unter dem Eindruck des Aufstandes in Ägypten übertreffen sich Nahost-Experten, Publizisten und Politiker gegenseitig in moralischen Verdammungen einer Außenpolitik, die aus kurzsichtigem Eigennutz bereit sei, die Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten auf dem Altar der "Stabilität" zu opfern.
Doch wie glaubwürdig ist dieser neue deutsche Demokratie-Enthusiasmus? Hörten wir nicht gerade erst täglich von allen Seiten, es sei eine naive Illusion, in Ländern wie Afghanistan eine Demokratie etablieren zu wollen - und wir müssten uns daher darauf beschränken, dort mittels eines Kompromisses mit antidemokratischen Kräften vor unserem schnellstmöglichen Abzug eine einigermaßen "stabile" Ordnung zu hinterlassen?
"Stabilität" - dieser Begriff, der in Talkshows neuerdings nur noch mit dem Timbre tiefster Verachtung für eine "Realpolitik" ausgesprochen wird, die sich aus eigenem Interessenkalkül mit autokratischen Regimes zu arrangieren bereit ist, galt in Europa bis eben noch als oberster Wert einer "verantwortungsvollen" Außenpolitik. So einig, wie sich zahlreiche "Experten" und Kommentatoren heute in ihrer wohlfeilen Forderung sind, die westlichen Regierungen hätten das Regime Mubaraks nunmehr augenblicklich fallen zu lassen und sich bedingungslos auf die Seite der ägyptischen Opposition zu schlagen, so fest standen sie noch vor wenigen Jahren in ihrer strikten Ablehnung einer Politik zusammen, die den Völkern des Nahen Ostens demokratische Verhältnisse unzulässigerweise "aufzwingen" wolle. Wer sich diesem weitreichenden Konsens widersetzte, geriet flugs in Verdacht, mit dem ideologischen Beelzebub Nummer eins unter einer Decke zu stecken: den "Neocons".
Tatsächlich hatten die Vordenker des amerikanischen Neokonservatismus seit Jahrzehnten den Bruch mit einer "realpolitischen" Praxis des Westens propagiert, die den Teufelskreis aus Gewaltherrschaft und Extremismus in der Region zementierte. Nur durch die konsequente Demokratisierung der von Autokratie, Korruption, Unbildung und Paranoia gepeinigten arabischen Gesellschaften, so predigten sie, könne deren chronische Rückständigkeit überwunden werden.
Doch als mit George W. Bush ein US-Präsident diese Leitidee der Neocons aufgriff und in praktische Politik umsetzen wollte, war die Ablehnung der Europäer so vehement wie nahezu einhellig. Laut und deutlich hat man noch die Warnungen etwa der deutschen rot-grünen Regierung im Ohr. Bushs Kampfansage an die etablierten Mächte des Nahen Ostens könne die gesamte Region "destabilisieren" und werde dort erst recht Fanatismus und Terrorismus schüren.
Als die USA schließlich den Irak besetzt hatten, galt die gesamte Anstrengung der deutschen wie der meisten europäischen Diplomatie nicht etwa der Unterstützung eines nunmehr möglich gewordenen demokratischen Neuaufbaus im Zweistromland - für den hatten sie kaum mehr übrig als die Prophezeiung, er müsse "im Chaos" enden. Sie galt vielmehr dem Versuch, das durch den Sturz Saddam Husseins in Turbulenzen geratene Machtgleichgewicht im Nahen Osten so rasch wie möglich zu "restabilisieren".
Als die Bush-Regierung in ihrer zweiten Legislaturperiode von ihren umstürzlerischen Plänen abließ und sich dem Hofieren angestammter Despoten zuwandte, schien die Welt für die europäische Diplomatie - und die weitestgehend hinter ihr stehende öffentliche Meinung - wieder in Ordnung. Bald sah man die westlichen Führer wieder vereint die altbekannten Autokraten als verlässliche Freunde und Garanten einer Beilegung des Nahost-Konflikts preisen.
Militärische Lösungen abzulehnen ist das eine - doch nie war von europäischer Seite ein alternatives Konzept zu erkennen, wie man demokratische Veränderungsprozesse in der versteinerten arabischen Welt fördern könnte. Mit derselben rechthaberischen Nonchalance jedoch, mit der man die Chance verstreichen ließ, im Irak beim Aufbau demokratischer Strukturen zu helfen, die anderen arabischen Ländern als Vorbild dienen können, ignorieren viele der frischgebackenen Kritiker westlicher Realpolitik jetzt die negativen Lehren aus dem neokonservativen Demokratisierungsexperiment. Was die Neocons und ihre Verbündeten im Weißen Haus nämlich sträflich unterschätzt hatten, waren die enormen Mühen und die Beharrlichkeit, die eine Etablierung tragfähiger demokratischer Institutionen in Ländern ohne demokratische Traditionen kosten würden. Und ihre inbrünstige Überzeugung, man müsse eine Gesellschaft nur den Selbstheilungskräften der Freiheit überlassen, damit sie Demokratie und Wohlstand finde, ließ die gewaltigen zerstörerischen Kräfte außer Acht, die sich Bahn brechen, sind die Betondeckel einer verheerenden Despotie erst einmal weggesprengt.
So übermächtig sie die extremistischen Kräfte im Irak darstellten, um den Amerikanern dort von vornherein das Scheitern zu bescheinigen, so schönfärberisch gehen zahlreiche "Nahost-Experten" nun über die Gefahren hinweg, die in Ägypten von mächtigen, gut organisierten Demokratiefeinden wie den Muslimbrüdern ausgehen. Doch vor dieser neuen Bedrohung der Freiheit auf der Hut zu sein, drückt keine Geringschätzung der arabischen Demokratiebewegungen aus. Wer eine Politik des "regime change" stets als imperialistisches Teufelszeug verdammte, wenn sie auf antiwestliche Diktaturen zielte, nun aber einen sofortigen "regime change" verlangt, weil es ein "prowestliches" Regime trifft, kann jedenfalls kein guter Ratgeber für eine neue, vorausschauendere Außenpolitik des Westens sein.