“Die Masse hat ihre eigene Klasse” (Zitat HFV). Heute ist Kommerztag: Menschen- und Kameramagneten wie Sarrazin oder Steinbrück sorgen auf dem blauen Sofa dafür, dass der Blick auf die schöne Literatur verdeckt wird.
Um kurz nach 14 Uhr wird es sehr eng im Foyer. Sarrazin, seine Privatarmee, Hunderte von Schaulustiger und ein paar Interessierte drängen sich um die ZDF-Bühne herum. Vier große Bildschirme sorgen dafür, dass die, die noch atmen können, die “Diskussionsrunde” wenigstens semi-live anschauen können.
Ich weiß nicht, was mich mehr wundern soll, die Tatsache, dass die Moderatorin im Vorfeld die Anwesenden auffordert, doch bitte erst nach der Veranstaltung zu klatschen oder zu buhen, oder die später gewonnene Erfahrung, dass das Publikum sich sogar daran hält und selbst bei den kontroversesten Argumentationen keine Reaktion zu beobachten ist, so als seien sie alle bezahlte Schauspieler.
S. hat mit seinem Buch mit dem wenig polemischen Titel “Deutschland schafft sich ab” einen Medientaifun ausgelöst, der auf ihn und seine Kritiker herabstürzte und dem Buch in kurzer Zeit eine Auflage von 1,1 Millionen einbrachte. Zwischen seinen Kernthesen, dem “Dreiklang von demografischer Schrumpfung, intellektueller Verschlechterung und kulturfremder Zuwanderung und rhetorischen Vorschlaghämmern wie “Man muss zeigen, wer in Deutschland Herr im Hause ist”, pendelt die Debatte zwischen bedingungsloser Zustimmung und kritischer Ablehnung. S. hat “offenbar einen Nerv getroffen”, wie er selbst mitteilt und klingt damit sehr nach einer passenden Aussage einer bereits vorher einkalkulierten Reaktion seines Buches. Aber viele Deutsche scheinen auf Menschen zu stehen, die sich “was trauen”, Menschen, die auch mal unangenehme Themen ansprechen, denn er ist einer, der es “denen da oben”, den politisch korrekten, mal so richtig zeigt. Eine konservative Projektionsfläche, der vor allem eines konservieren will: Die deutsche Identität, die deutsche Gesellschaft, die er nach eigenen Aussagen in 500 Jahren so gut wie ausgestorben sieht.
- Wer ist wohl der richtige?
Ich weiß nicht, was ich abstoßender finden soll, die billigen Ressentiments à la die Muslime haben mehr Kinder als die Deutschen und sind deshalb gefährlich für das gesellschaftliche Gleichgewicht, das gestresste Gedränge und Geschiebe der jungen bis alten Schaulustigen (ja, ich gehöre dazu), das massive Polizei- und Bodyguard-Aufgebot oder das bestätigende, fast schon hospitalistische Nicken des Mannes vor mir auf jede Aussage des ehemaligen Mitglieds des Bundesbankvostandes.
Später begegnet S. mir schon wieder, wenn auch nur in Textform. Und zwar dort, wo ich ihn irgendwie auch erwartet hatte. Auf dem Stand der Jungen Freiheit, die als größte deutsche Wochenzeitung für “intellektuellem Rechtsextremismus” bezeichnet wird und, nach eigener Überprüfung, Worte wie Populist, zum Beispiel in Bezug auf Geert Wilders, in typisch nazih aft-zynistische Anführungszeichen setzt. In der aktuellen Ausgabe vom 8. Oktober wird S. als jemand instrumentalisiert, der endlich mal wieder eine Antwort liefert auf die Volksparteien, die sich “arrogant dem Volkswillen widersetzen”. Weitere Details möchte ich mir hier sparen…
Gibt es denn heute keine interessanten Veranstaltungen mehr? Vielleicht, denn später wird Sascha Lobo seinen von der FAZ aufs härteste verrissenen Roman vorstellen. Lobo wirkt allerdings vor allem müde und irgendwie unglücklich, sein seltenesLächeln wirkt leicht eingeübt. Das liegt bestimmt daran, dass er zwar aufgrund seines neuen Buches eingeladen war, jedoch auch nur keine einzige Frage bezüglich seines Debütromans gestellt bekommt.
Gutes Marketing bewiesen die Mitarbeiter am taz-Stand. Sie warben mit kostenlosen tazpresso-Kaffee um Sympathien, der wirklich gut schmeckt. haha.
Später dann, in einer anderen Halle, auf der FAZ-Bühne, kommt es zur Überraschung, aus aktuellem Anlass wird das Programm geändert. Thilo ist da! Da kann Frank Schirrmacher nicht anders und muss gleich eine spontane Diskussionsrunde organisieren. Innerhalb kürzester Zeit ist sehr eng geworden an der Bühne. Aber nein, ich möchte mir das nicht schon wieder anhören müssen.
- “Die Masse hat ihre eigene Klasse” (HFV)
Lieber flaniere ich weiter und gönne mir aus Recherchegründen eine, mit viel Butter beschmierte und damit beeindruckenden Wohlstand demonstrierende Salzbrezel vom Stand des Springerverlags und höre einem Gespräch zu, bei dem ein verbitterter Herr einer Frau erzählt, dass er in all den Jahren doch so gute Arbeit geleistet hätte für den Verlag, sogar die Newsletter hätte er geschrieben. Keine Zeit für Mitleid, denn lieber gehe ich in Richtung der S-Bahn-Station und verschmelze wieder mit der zum selben Ziel pilgernden Masse.
Text und Fotos: Phire