Nachdem ich im ersten Teil beschrieben haben, woher der Wunsch nach Veränderung im Gestaltsinne komme, möchte ich mich nun der Frage widmen, ob der Mensch überhaupt die Freiheit hat, „sich zu verändern“. Und wer letztendlich die Verantwortung dafür trägt.
Schicksal und was daraus entstehen kann
Arnold Beisser ist 25 Jahre alt und auf dem Weg nach Europa, in dem gerade der 2. Weltkriegt wütet, um dort als Kriegsberichterstatter zu arbeiten, als er völlig überraschend an Polio (Kinderlähmung) erkrankt, einer zu dieser Zeit noch unheilbaren Krankheit.
Bis dahin lebte er den amerikanischen Traum vom „Alles ist möglich, wenn man es nur versucht“. Er ist nationaler Tennis-Champion und einer der jüngsten Professoren der amerikanischen Universitäts-Geschichte. Von heute auf morgen ist Beisser fast komplett gelähmt und für viele Monate an die „eiserne Lunge“ gefesselt, die ihn zu Beginn seiner Krankheit am Leben erhält. Mit einem Mal ist sein bisher so geradlinig und zielstrebig geplantes Leben dahin, ein Schicksalsschlag, der sein Leben auf nachhaltigste Weise verändert.
Er trifft irgendwann auf Fritz Perls und wird ihm Freund und Schüler. Seine paradoxe Theorie der Veränderung (auf die ich an späterer Stelle noch eingehen werde), wonach Veränderung nicht dadurch geschieht, indem man sich darauf konzentriert, etwas unbedingt ändern zu wollen, sondern indem man zuallererst akzeptiert was ist, wird ein zentraler Bestandteil der modernen Gestalttherapie. Er leitet, an den Rollstuhl gefesselt, für viele Jahre eine psychiatrische Klinik, hat Frau und Familie und stirbt 1990 nach einem erfüllten und reichen Leben.
Bucky Kantor ist ungefähr im gleichen Alter wie Beisser, als er im Jahr 1944 ebenfalls an Polio erkrankt. Er ist Sportlehrer und begnadeter Turmspringer und betreut zu diesem Zeitpunkt in Newark Schülerinnen und Schüler während deren Sommerferien. Viel lieber wäre er aber wie alle seine Freunde an der Front in Europa. Aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit aber wurde er als untauglich eingestuft. Eine „Schmach“, die ihm schwer zu schaffen macht, und die er mit einem beinahe krankhaften (neurotischen?) Verantwortungsbewusstsein für seine Schülerinnen und Schüler auszugleichen versucht.
Auch Kantor muss für viele Monate in die „eiserne Lunge“, und ist danach für immer „ein Krüppel“, wie er selbst sagt. Er ist zwar an keinen Rollstuhl gebunden, kann sich aber nur noch mit Krücken und unter größten Kraftanstrengungen bewegen.
Obwohl ihm seine Verlobte ihre Liebe mehrfach beteuert und ihn ohne Zögern auch mit seiner Behinderung heiraten will, vertreibt er sie aus seinem Leben und wird ein eigenbrötlerischer und frustrierter Mann, der alleine Gott für sein Schicksal verantwortlich macht. Er stirbt nach vielen Jahren einsam und verbittert mit der tiefen Überzeugung, dass Gott und die Welt gegen ihn waren.
Bucky Cantor ist im Gegensatz zu Arnold Beisser keine reale Person, sondern die Erfindung von Philip Roth, der Bucky´s Geschichte in seinem Roman „Nemesis“ erzählt (dessen Lektüre ich nur empfehlen kann, auf den ich aber an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde). Mehr oder weniger zufällig habe ich Arnold Beisser´s Autobiografie „Wozu brauche ich Flügel“ und Bucky Cantor´s Nemesis parallel gelesen. Zwei mehr oder weniger identische Schicksale mit so unterschiedlichen Auswirkungen für das weitere Leben der beiden Betroffenen.