Während ich dies schreibe, wird in Berlin der Protest der “occupy Berlin”-Bewegung vor dem Reichstag gewaltsam beendet. Vor dem Symbol der Volksherrschaft, dem Parlament, wird die Souveränität des Volkes offensichtlich und ohne Hemmungen mit Füßen getreten. Ein trauriger Tag für Deutschland.
Ein Gespenst geht um in der Welt, das Gespenst der 99 %, die sich nicht mehr alles gefallen lassen wollen. Die Occupy-Bewegung hatte zu weltweiten Protesten aufgerufen, und überall kamen unorganisiert Menschen zusammen. Fast überall endeten die Proteste friedlich, oder sie werden sich in Camps fortsetzen. In Berlin wollte die Macht ein Exempel statuieren.
Formal hat die Polizei das Recht, das entstehende Camp in der Bannmeile zu räumen. In der Bannmeile darf es im Normalfall keine Demonstrationen geben. Aber die Bannmeile wäre auch ein symbolträchtiger Ort gewesen. Hier den Banken, den Regierungen, den undemokratischen Machenschaften die Stirn zu bieten wäre fantastisch gewesen. Vor allem dann, wenn es gewaltfrei gewesen wäre, wenn es den Lebensentwurf vorweggenommen hätte, den man für eine bessere Gesellschaft haben sollte.
Es waren mehrere hundert am Schluss, die bleiben wollten. Ich gehörte nicht dazu, ich war nur über den Livestream dabei. Aber was ich hörte, hat mich bedrückt und erzürnt! Ohne Waffen waren sie gekommen, sie glaubten wie ich an den friedlichen Protest. Wie viele vor ihnen mussten sie erleben, dass dem friedlichen Protest allzu oft mit Gewalt begegnet wird. Und das an diesem ersten Tag einer neuen Bewegung, als wolle man sie im Keim ersticken. Rufe: “Keine Gewalt”, “Schämt euch”, konnte man hören. Rufe und Pfiffe. Chöre wie “Wir sind das Volk”. Und dann Gegenstände, die auf den Boden fallen, und schließlich Schreie, die Schmerzensschreie sein könnten. Dann brach der Livestream ab.
Wovor habt ihr Angst, ihr Merkels und Ackermanns, dass euch Gewalt gegen das Volk in seinem eigenen Namen lieber ist als ein paar Zelte vor dem Kanzleramt oder Reichstag? Ihr seid armselig. Ihr trampelt auf den Nöten der Menschen herum, wie ihr auch eine Blume zertreten und nach einer Fliege schlagen würdet.
Es waren nur wenige Tausend in Frankfurt, Berlin, Köln, München und einigen anderen Städten. In den 80ern des letzten Jahrhunderts hat es Friedensdemonstrationen mit dem hundertfachen an Teilnehmern gegeben. Und doch haben diese Wenigen Angst gemacht. Sie demonstrierten auf der ganzen Welt, oder zumindest überall dort, wo Demonstration möglich ist. Es war ein beeindruckendes Signal, dass die Menschen nicht mehr einverstanden sind.
Gerade jetzt werden vermutlich Menschen verhaftet, geschlagen, getreten, weil sie für ihre Überzeugung eintreten. Das geschieht jeden Tag, und es scheint, als solle man kein all zu großes Aufsehen darum machen. Aber für mich hat Deutschland heute eine Grenze übertreten, die ich bislang nur aus anderen Ländern und aus der Zeit vor 1969 kannte. Eine friedliche Versammlung ohne Provokation, ohne Gewalt, ohne Gefahr wird gewaltsam aufgelöst. Wir haben unsere Demokratie an den Nagel gehängt, das haben wir schon einmal getan. Vor wenigen hundert Menschen haben die Machthaber eine solche Angst. Es beweist uns, dass wir das Volk sind und dass wir nicht nachgeben dürfen. Aber es macht auch traurig und beschämt.
Ich wache, auch wenn der Livestream abgerissen ist. Ich wache für die Leute in Berlin, für die einfachen Mitbürger, aber auch für die Polizisten, die sich nicht wohl in ihrer haut fühlen können. Sie müssen spüren, dass sie zu weit gehen, endgültig.
Es ist nicht so wichtig, dass dieses Camp am Reichstag entsteht. Wichtig ist, dass es gewaltsam verhindert wurde. Wichtig ist, dass man keinen Spaß versteht, wenn Korruption und mangelhafte Demokratie beklagt wird, und wenn man unüberhörbar darauf hinweist, dass wir, die Nicht-Ackermanns, die Nicht-Merkels, dass wir 99 % des Volkes sind. Wir sind zwar nicht reich, aber wir sind die Mehrheit. Und endlich! Endlich engagieren sich einige von uns wieder in der Politik und für ihre eigene Zukunft. Und darum wache ich, und wenn es die ganze Nacht dauert.