Das Jugendmagazin ran hat meinen Beitrag über “Free Riga” veröffentlicht: ran_FreeRiga_Beleg
Trotz steigender Immobilienpreise stehen selbst in besten Innenstadtlagen von Riga dutzende Häuser leer. Gleichzeitig suchen Künstler und junge Start-Up-Unternehmer dringend preiswerte Räume. Die Initiative Free Riga 2014 will potenzielle Mieter mit den Eigentümern der leerstehenden Objekte zusammenbringen.
Jenseits des Kronwald-Parks mit seinen Wasserläufen und den uralten Bäumen reihen sich am Rande der Rigaer Altstadt die Botschaften der großen westlichen Länder aneinander: Prächtige Stadtvillen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Marcis Rubenis zeigt im kalten Nieselregen auf ein großes Eckhaus. Russ und Dreck der Jahre haben die stuckverzierte Fassade braun-grau gefärbt. Auf den dunklen Fenstern kleben runde, handtellergroße Aufkleber mit der Aufschrift „Occupy Me“, besetze mich. Das ehemalige lettische Inneministerium steht seit Jahren leer.
Marcis beobachtet das fünfstöckige Eckhaus in bester Lage seit langem: Die Stadt habe es 2006 an eine Firma vermietet, die hier ein Hotel bauen wollte. Dass diese “Spitzenimmobilie immer noch leer steht, während in der Kunstakademie nebenan Studenten dringend Räume für Ateliers und Ausstellungen suchen“ findet nicht nur Marcis „unfair. Hier funktioniert der Markt nicht“, analysiert der studierte Volks- und Betriebswirt.
Marcis Rubenis spricht Deutsch, Russisch und fließend Englisch. Sein Wirtschaftsstudium habe ihm „zu wenig gebracht“, sagt der 28jährige ohne überheblich zu wirken. „Ich nehme jetzt an Businesswettbewerben teil, habe schon einige gewonnen und lebe von meinen Projekten“, erklärt er und ergänzt lächelnd „I am a not yet come true Bill Gates Story“, frei übersetzt „eine noch nicht verwirklichte Bill Gates Geschichte“. Derzeit schreibt er seine Bachelor-Arbeit zu Ende.
Letztes Jahr ist er vier Monate durch Europa gereist und hat dann Rigas ersten Co-Working-Space eröffnet. Viele Anregungen habe er aus Berlin mitgebracht. Die vielen verschiedenen, kreativen Menschen dort hätten ihn inspiriert. In einer großen Wohnung vermietet Marcis Arbeitsplätze stunden-, tage-, wochen- oder monatsweise an kreative Unternehmerinnen und Unternehmer. Wer mag, entwickelt hier mit Gleichgesinnten Ideen und sucht die neudeutsch so genannten Synergien: Arbeiten in kreativer Umgebung zu bezahlbaren Preisen.
Marcis war nicht der einzige, der sich über die vielen leerstehenden Häuser in der Rigaer Innenstadt wunderten. Ein paar Leute fanden sich zur Initiative Free Riga 2014 zusammen und ließen 5000 „Occupy Me“ – Aufkleber drucken. In einer Septembernacht klebten die Aktivisten 2000 davon auf rund 100 leerstehende Häuser. „Mit Hausbesetzungen hat das nichts zu tun“, versichert der junge Mann mit dem schmalen Gesicht. „Mit der Aktion wollten wir testen, wie die Leute reagieren.“
Nach ein paar Tagen zählte der Aufruf von Free Riga, ungenutze Räume für kulturelle und soziale Initiativen zu öffnen, fast 3000 „Likes“. An die 1000 Nutzer verbreiteten die Seite weiter. In einer Stadt mit 700.000 Einwohnern ist das eine Menge.
Inzwischen zeigt der Internet-Stadtplan der Initiative unter www.freeriga2014.lv fast 400 ungenutzte Gebäude. Und täglich zeichnen Leute weitere ein. Eine Mitstreiterin arbeitet in der Immobilienabteilung einer Bank. Sie habe bisher 120 der Einträge überprüft und die Hausbesitzer ausfindig gemacht. Free Riga will eine Plattform schaffen, auf der mögliche Nutzer und Eigentümer zusammenfinden.
Nach einem Fernsehbericht wollten „Banken und Unternehmen wissen, was da los sei“, erzählt Marcis. Erwartet hatten die Aktivisten „Gegenwind“. Das Gegenteil passierte. Das Liegenschaftsamt lud sie zum Gespräch ein. „Die waren aufgeschlossen.“ Die Stadt will nun die Steuern auf ungenutzte Immobilien erhöhen, um die Eigentümer zum Vermieten oder Verkaufen zu bewegen.
„Die Besitzer sind gar nicht die Bösen“, sagt Marcis. Erst vor ein paar Tagen habe Free Riga eine Mail eines Hausbesitzers bekommen, der Nutzer für sein leerstehendes Gebäude sucht. Andere warteten auf den nächsten Immobilienboom, der die Preise wieder nach oben treibe.
Die Wirtschaft erholt sich allmählich von der schweren Krise. Nach Schätzungen der EU-Kommission wird Lettland 2014 wieder mit rund vier Prozent die höchste Wachstumsrate in der Europäischen Union ausweisen.
Gnadenlos hat die konservativ-liberale Regierung ihr Land für den Eurobeitritt am 1. Januar diesen Jahres zurechtgespart. Nach dem Wirtschaftsboom zu Beginn des Jahrtausends verlor Lettland in der Finanzkrise von 2008 bis 2010 mehr als ein Fünftel seiner Wirtschaftskraft.
Zuvor hatten die drei baltischen Länder einen beispiellosen Wirtschaftsboom hingelegt. Wie im Westen hatten Banken großspurig Immobilienkredite verteilt. In Riga und dem vor allem bei russischen Investoren beliebten Seebad Jurmala schossen Luxusapartments und Villen wie im Spätsommer die lettischen Pilze aus dem Boden. Die inzwischen unter Schutz gestellten historischen Holzhäuser am südwestlichen Stadtrand Rigas sollten Wolkenkratzern weichen.
Die steigenden Immobilienpreise würden, so die Hoffnung, die Kredite refinanzieren. Geplatzt ist die baltische Blase wie die in Großbritannien, Spanien oder den USA.
Marcis berichtet von Entwürfen für 15 Bürotürme, deren Pläne den Gesetzen widersprochen hätten. Eigentlich dürfe niemand höher bauen als 112 Meter. Das Maß geben die Türme der Peterskirche in der Altstadt vor. Über Nacht hätten die Bauherren der Wolkenkratzer ihre Pläne noch geändert, bis eine Bürgerinitiative den Schmuh aufgedeckt und das Projekt gestoppt habe.
Die Regierung reduzierte nach dem Absturz der lettischen Wirtschaft die Ausgaben und erhöhte die Steuern. Fast jeder dritte Staatsangestellte verlor seinen Job. Staat und Privatwirtschaft kürzten die Gehälter um bis zu 40 Prozent. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg auf 19 %.
Die Radikalkur freut zumindest die Wirtschaftsstatistiker: Lettland schaffte auf Anhieb die so genannten Maastricht-Kriterien: Die Staatsschulden liegen bei 42 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Deutschland sind sie fast doppelt, in Griechenland mehr als drei Mal so hoch. Der Anteil der staatlichen Neu-Verschuldung am Bruttosozialprodukt betrug 2013 1,3 Prozent, deutlich weniger als die im Vertrag von Maastricht erlaubten drei.
Die Kehrseite: Fast 300.000 Menschen, mehr als zehn Prozent der Bevölkerung, zogen seit 2007 auf der Suche nach Arbeit in den Westen. Kinder blieben bei den Großeltern zurück. Auf dem Land leben kaum noch junge Leute. Auch aus der Hauptstadt Riga sind mehr Menschen weg- als zugezogen.
Nach den vielen positiven Reaktionen auf ihre Internetseite und die Aufkleber fragten sich die Aktivisten von Free Riga, ob sich genügend Interessenten für die vielen leerstehenden Gebäude finden würden: „Mehr als 60 Vereine, Initiativen und Unternehmer haben sich mit ihren Wünschen und Ideen bei uns gemeldet“, berichtet Marcis: Einer möchte eine Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt mit Café eröffnen, andere einen Upcycling-Workshop in dem aus alten Sachen neue entstehen sollen. Theatergruppen, Künstler und Leute, die ein Kino einrichten möchten, haben ihr Interesse bekundet.
„70 Prozent sind Träumer“, analysiert Marcis in seiner nüchternen, trockenen Art, aber die anderen 30 Prozent „echte Macher“. Er würde gerne ein kreatives Kulturzentrum eröffnen, in dem all die Dinge Wirklichkeit werden können, „die die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer Marketing-Propaganda“ links liegen lässt: Wiederverwertung gebrauchter Dinge oder ein Markt, in dem die Städter frische Produkte direkt von den Bauern aus der Umgebung kaufen können. Ideen gibt es reichlich. Leerstand auch.