Im Kafka-Museum hatte unsere kleine Spurensuche begonnen. Wir lassen uns entführen in eine Zeit, die fast 100 Jahren zurück liegt. Ein medialer Spaziergang lädt ein, beginnend mit Kafkas Kindheit, seinem Weg zu folgen. Alles ist liebevoll arrangiert und zusammengestellt. Als Buchhändlerin und Berlinerin zu Gast in Prag, bin ich ganz besonders berührt von den unzähligen Fotos aus dem Archiv Klaus Wagenbach. Im Berliner Wagenbach-Verlag sind so berühmte Bücher wie Kafkas Prag und Kafka in Berlin erschienen.
Auch der Verlag Vitalis in Prag ist bekannt für liebevolle Ausgaben aus Kafkas Werk. In allen erdenklichen Sprachen. Im Kafka-Museumsshop hätten wir beispielsweise auf Spanisch Die Verwandlung kaufen können. Doch es ist der Brief an den Vater, welcher uns magisch anzieht …
Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zu der Furcht zu viele Einzelheiten gehören … (S. 7).
Ursprünglich als Brief geplant, entwickelt sich Kafkas Vorhaben schnell zu einem langen Text mit mehr als hundert Manuskriptseiten, den er an die Adresse der Eltern sendet. Den der Vater (Hermann Kafka) aber nie gelesen hat! Weil die Mutter (Julie Kafka) es für ratsamer hielt, ihn zu verbergen. Wie hätte es aber Kafkas Leben, möglicherweise auch sein Schreiben verändert, wäre es zu einer wirklichen Auseinandersetzung gekommen zwischen ihm und dem Vater. Einem Mann, der immer unbeschränktes Vertrauen zu seiner eigenen Meinung hatte. Der von seinem Lehnstuhl die Welt regierte und nicht aufhören konnte, Recht zu haben. Deine Meinung war richtig, jede andere verrückt, überspannt, meschugge … Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person nicht auf dem Denken begründet ist (S. 16).
Jede Zeile dieses kleinen Buches atmet Verzweiflung und Wut. Es lässt mich tief blicken in die Seele eines sensiblen Jungen, der keine Chance hat gegen den übermächtigen Vater. Der in dessen Augen nie die “richtigen” Freunde hat, der kein Fleisch mehr essen mag. Ein Junge, der später als Mann verzweifelt in seiner öden Tätigkeit als Versicherungsangestellter. Und der es nie wirklich schafft, eine intensive Beziehung zu einer seiner geliebten Frauen aufzubauen. Milena Jesenská, Julie Wohryzek, Felice Bauer, Dora Diamant …
Wie ich im Nachwort erfahre, wurde dank der Entschlossenheit seines Freundes Max Brod der ursprünglich 1919 in der nordböhmischen Pension Stüdl geschriebene Brief an den Vater in die Gesammelten Werke Kafkas aufgenommen, 25 Jahre nach dessen Tod. Ich halte das Bändchen aus dem Vitalis Verlag in den Händen und bin unglaublich glücklich. Es ist so schön!
Das Vorsatz des Buches ist geschmückt mit den Zeilen des Briefes in der Original-Handschrift Kafkas. Auch die Illustrationen im Buch sind von Franz Kafka. Kleine verzweifelte Strichmännchen in Schwarz auf weißem Grund. Der Verlag Fischer hat sie für die Taschenbuchausgaben der Romane und Erzählungen gewählt:
So habe ich also – beginnend mit meiner Reise nach Prag – ein Buch gelesen, welches seit Jahren auf meiner Bücherliste steht. Die Lektüre hat mich beglückt, bereichert und fasziniert. Und sie hat eine Erinnerung ausgelöst …
… und damit einen weiteren Stein ins Rollen gebracht. Ich habe mich an einen meiner Lieblingsromane über Kafka und seine letzte Liebe Dora Diamant erinnert. Von dieser Liebe existieren kaum Briefe oder Notizen. Michael Kumpfmüller hat mit den wenigen existierenden Details und viel Phantasie den sehr berührenden und zarten Roman Die Herrlichkeit des Lebens (2011) geschrieben. Aber das ist eine andere Geschichte …
Wer Die Herrlichkeit des Lebens gewinnen und lesen möchte, der hat hier auf dem Blog des Verlages oder auf der Facebook-Seite von KiWi die Chance.
Franz Kafka. Brief an den Vater. Vitalis Verlag. 92 Seiten, Lesebändchen.
Mit Zeichnungen von Franz Kafka. 92 Seiten. 9,90 €