Von Robert B. Fishman
Marseille – Saint Henri. Auf einer matschigen Brachfläche am Straßenrand stehen ein paar alte, kaputte Wohnwagen. „Da war das Zigeunerlager“, erklärt Elisabeth Kosa, die ganz in der Nähe in einer Reihenhaussiedlung wohnt. Die „Zigeuner“ sind weg. Frankreichs derzeit wahlkämpfender Präsident Nicolas Sarkozy ließ tausende Roma vergangenen Sommer ausweisen. „Die Unordnung“, sagt Elisabeth Kosa, sei doch nicht gut fürs Image der Stadt. Außerdem fürchteten die Leute um ihre Sicherheit. Ihr selbst, sagt die aus Ungarn eingewanderte Wissenschaftlerin, sei noch nie etwas passiert. Aber man höre ja genug.
Frankreich hat Angst: Angst vor Zigeunern, vor Räubern und vor den Jugendlichen aus den Cités, den Betonfestungen an den Rändern der Städte: Endlager für viele, die nicht dazu gehören. Etwas oberhalb von Saint Henri ragt eine solche Cité wie eine Festungsinsel aus der felsigen Hügellandschaft: Ein Haufen verwitterter, eng beieinander stehender Wohnklötze. Gefährlich sei es dort und voller Drogen.
Drogenfestung La Castellane
Vor einem der rund 15 Stockwerke hohen Wohntürme steht ein junger Mann an der Einfahrt zur Hochhaussiedlung. Die Kapuze seines Pullis hat er sich über den Kopf gezogen. Sein Gesicht verbirgt er hinter einer verspiegelten Sonnenbrille. Misstrauisch beäugt er jedes Auto, das so aussieht, als wollte es nach La Castellane einbiegen. Wahrscheinlich steht er Schmiere.
Ende 2011 haben Polizisten das Kassenbuch eines Drogendealers im Marseiller Norden gefunden: Im Schnitt bringt der illegale Handel gut 100.000 Euro Umsatz im Monat – steuerfrei. Davon gehen, so die französische Internetzeitung rue89, rund 4800 Euro im Monat an die Jungs aus dem Viertel, die für die Dealer Schmiere stehen. Rund 9000 kassieren die Kleindealer, die den Stoff auf der Straße verkaufen. La Castellane, die Hochhaussiedlung in Saint Henri, nennt rue89 eines der Zentren im Marseiller Drogengeschäft.
Immer wieder berichten die Zeitungen von blutigen „Abrechnungen“ zwischen verschiedenen Drogenbanden in den „heißen“ Vororten von Marseille. 500 Waffen habe die Polizei 2011 sichergestellt, darunter 250 Kalaschnikows.
Ein paar hundert Meter von La Castellane den Hügel hinunter wohnt Elisabeth Kosa mit ihrem Mann und den beiden Kindern in einer abgeschlossenen Siedlung. Das Gelände ist eingezäunt. Mit einer Fernsteuerung öffnet sie das Tor zur Einfahrt. „Bei fast allen Nachbarn haben sie schon eingebrochen“, beklagt sie. „Deshalb haben wir die Alarmanlage und schließen immer gut ab.“ Nachdem sich im Park nebenan die Zigeuner niedergelassen hatten, bauten die Siedler eine Mauer. Die Roma hätten die Wasser- und Stromleitung angezapft, erzählt Elisabeth Kosa. „Das ist doch gefährlich.“ Mit den Kindern habe sie gar nicht mehr in den Park gehen können. Obwohl er dafür doch gemacht sei.
Saint Henri war einst ein provenzalisches Dorf, zehn Kilometer vom Zentrum der Hafenstadt Marseille entfernt. Rund um die Kirche stehen zweistöckige Häuserzeilen mit hellblau und grün gestrichenen Fensterläden.
Schnell und billig
Seit den 60er Jahren ist die Großstadt immer näher gerückt. Weil Frankreichs Industrie Arbeitskräfte brauchte, strömten Einwanderer aus den nordafrikanischen Kolonien ins Land. In Südfrankreich landeten außerdem tausende von Algerien-Franzosen, die „Pieds Noirs“, die im nun unabhängigen Algerien nach acht Jahren Krieg nicht mehr bleiben mochten oder konnten.
Neubaugebiet am Meer in Marseille / waterfront with new built area in Marseille/ 20.03.2011, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia, C3455
Die Stadtplaner ließen für die Neuankömmlinge und die zahlreichen einheimischen Wohnungssuchenden gigantische Wohnblocks in die felsige Berglandschaft rund um Marseille betonieren. Schnell musste es gehen und billig. Aus den Neubau- wurden Problemviertel: Der Beton bröckelt. Viele Wohnungen verkommen. Kaputte Aufzüge in den 15 bis 20 Etagen hohen Blocks repariert niemand mehr.
Als 2005 in den heruntergekommenen Pariser und Lyoner Vororten die Jugendlichen aufbegehrten, demonstrierten und Autos anzündeten, blieb es in Marseille erstaunlich ruhig. Anders als in der Hauptstadt hatten die Stadtplaner hier ihre Hochhaussiedlungen über die gewachsenen Dörfer und Vororte rund um die Stadt verteilt. La Castellane oder Plan d’Aou im Norden, La Cayolle oder La Rose im Süden, die Geschwüre einer größenwahnsinnigen Stadtplanung haben Marseille an vielen verschiedenen Stellen befallen.
Frankreichs Fußballstar Zinadine Zidane ist in La Castellane aufgewachsen. Das Fußballspielen hat er beim FC Saint Henri unten im Dorf gelernt. Malek, der Vereinsvorsitzende, stammt wie Zidane aus einer nordafrikanischen Einwandererfamilie.
In einem kleinen Kabuff sitzt er an einem Laptop und plant die Aufstellung für die nächsten Spiele. Nein, mit Rassismus gäbe es hier im Verein keine Probleme. Zu schaffen macht ihm wie vielen vor allem die Arbeitslosigkeit. Unten am Meer habe der Staat eine Freihandelszone eingerichtet: 10.000 Arbeitsplätze gegen zahlreiche Steuervorteile. Allerdings hätten die Firmen, entgegen ihrer Zusage, kaum Leute aus der Umgebung eingestellt. Dennoch: Malek zumindest hat es geschafft. In einem Pharmaunternehmen hat er eine Stelle gefunden: als Pharmazievorbereiter, eine Art MTA. „Wer wirklich will“, meint Malek, „findet auch etwas.“
Elisabeth Kosa widerspricht: „Schauen Sie, ich habe mehrere Abschlüsse, bewerbe mich überall und bekomme nur Absagen.“ Einen Moment lang kommt Malek ins Nachdenken. „Dann haben Sie wahrscheinlich zu viele Diplome.“
Seine Freizeit verbringt Malek im Verein. „Hier“, sagt er, „sind alle gleich.“ Ihn als Vereinsvorsitzenden dürfen die Trainer genauso zusammenschreien, wie jeden anderen Spieler auch.“
Foto: Robert B. Fishman
Das sieht Trainer Frédo genauso. Der kleine rundliche Mann um die 50 steht mit der Trillerpfeife in der Hand auf dem Platz. Eine Hand voll Kinder übt unter seinem kritischen Blick Pässe. Andere dribbeln um orangefarbene Pylone. Frédo ist einer der wenigen, der noch den Marseiller Sing-Sang-Dialekt spricht. Er sieht sich nicht nur als Fußball-Trainer: Manche Kinder hätten zuhause Probleme, zum Beispiel weil sich ihre Eltern trennen. „Da helfen wir“, erzählt Frédo. Die Kinder bräuchten vor allem einen festen, verlässlichen Rahmen. 2012 hat der Verein ein Leitbild für Fußballer aufgestellt. Daran muss sich jeder halten. Für uns kommt es nicht darauf an, woher ein Kind kommt oder welche Hautfarbe es hat. Auch mit den Kindern und Jugendlichen aus La Castellane, von denen einige beim FC spielen, sehen Frédo und Malek „keine Probleme“.
Elisabeth Kosas 6jähriger Sohn kommt gerne zum Training. Mama holt ihn mit dem Auto ab. Dann geht’s durch Saint Henri nach Hause. Um Fünf kommt Papa von der Arbeit und bringt den Jungen mit seiner kleinen Schwester zum Klavierunterricht ins Gemeindehaus des Stadtbezirks ganz oben auf dem steilen Berg hinter der Hochhaussiedlung La Castellane.
„In Marseille fehlen rund 5000 Kindergartenplätze“, schätzt die aus Algerien stammende Juristin Ferten Djendoubi. Sie berät im Marseiller Norden Frauen in sozialen und rechtlichen Fragen.
Ferten, selbst alleinerziehende Mutter, hätte beinahe ihren Job aufgeben müssen, weil sie keinen Platz für ihre Tochter fand. Über eine Freundin hat sie schließlich doch noch eine Betreuungsmöglichkeit gefunden. Dafür ist sie jetzt jeden Morgen anderthalb Stunden unterwegs: Zu Fuß, mit dem Bus und mit zwei U-Bahn-Linien. „Wenn Du nicht wild entschlossen bist zu arbeiten“, sagt sie, „gibst Du irgendwann auf.“ Kommt man wegen der Streiks bei den öffentlichen Verkehrsmitteln ein paar Mal mit dem Kind zu spät zur KiTa, ist der Platz weg.
Markstand im Einwandererviertel Nouaille
Die U-Bahnlinie aus dem Marseiller Zentrum endet nach wenigen Stationen im tristen Alt- und Plattenbauviertel Bougainville. Auf dem zugigen, großen Busbahnhof starten hier die Busse in die nördlichen Vororte. Über Saint Henri nach L’Estaque braucht der Bus für neun Kilometer eine halbe Stunde – Staus nicht mitgerechnet. Abends kurz vor acht fährt der letzte. An Bord: arabische Jugendliche und alte Frauen, die meisten von ihnen tragen Kopftücher, manche haben sich Hände und Gesicht nach nordafrikanischer Tradition mit Henna bemalt. Im Bus hört man fast nur Arabisch. Frankreich scheint weit weg.
Vorbei an Lagerhallen und heruntergekommenen alten Häusern quält sich der Bus über die volle Lyoner Straße. „Euromerde dégage“, „Euroscheiße hau ab“ haben Protestierer in blutroter Farbe auf verwitterte, vom Ruß der Abgase geschwärzte Fassaden gemalt. Drunter steht: „expulsion“, „Vertreibung“. Gemeint ist das rund sieben Milliarden Euro teure Innenstadtsanierungsprogramm Euroméditerrannée. Seit gut zehn Jahren wird das Zentrum von Marseille saniert. Weiter nördlich – am ehemaligen Industrie-Hafen – entsteht ein komplett neuer Stadtteil mit Wohnungen, Promenaden, Büros, Shopping-Malls und Museen. Das traditionelle Arbeiterquartier La Joliette wird ebenso umgebaut wie Frankreichs bislang ärmster Stadtteil, das arabische Viertel am Hauptbahnhof Saint Charles. Wer hier nicht mithalten kann, muss wegziehen. Viele landen auf der Suche nach billigen Wohnungen in den Hochhaussiedlungen am Stadtrand.
„Früher“, sagt Sévérine Labrousse, die in einem kleinen Hotel in der Innenstadt arbeitet, „war Marseille sehr gemischt. Aber jetzt packen sie die ganzen Moslems auf die eine Seite und die Franzosen auf die andere.“ Sévérine wohnt mit Mann und Kind in La Joliette – mitten im Sanierungsgebiet. Die 28jährige, die in Marseille geboren und aufgewachsen ist, ärgert sich über die sozialen Gräben, die die Stadt immer weiter teilen: „Sie haben die Leute aus La Joliette umgesiedelt. Jetzt verkaufen sie die Wohnungen nur noch an Franzosen und an Reiche. Und die Armen konzentrieren sich weiter oben.“ In ihrem Stadtteil fühlt sich Sévérine nicht mehr wohl. Ihr 11jähriger Sohn habe fast nur noch Moslems in seiner Klasse. An den islamischen Feiertagen bleibe die Schule geschlossen, „weil sich der Unterricht für die drei nichtmuslimischen Kindern nicht lohnt.“
Den Frust der Franzosen über eine verfehlte Einwanderungs- und Integrationspolitik münzt Marine Le Pen von der rechten Nationalen Front geschickt in Wählerstimmen um. Der Südosten Frankreichs und vor allem die armen Stadtteile in Marseille gelten als Hochburg der Rechten. „Wo ist der Hochdruckreiniger?“ fragte die eloquente Tochter des rechten Haudegens und Front National Gründers Jean Marie Le Pen im Wahlkampf immer wieder. Sie spielt damit auf Ex-Präsident Nicolas Sarkozy an, der nach den Jugendrevolten 2005 in Paris und Lyon die Vorstädte mit einem Hochdruckreiniger säubern wollte.
Djamila Moumen, in Algerien geboren und in einem französischen Alpendorf aufgewachsen, berät wie Ferten vor allem Einwanderer-Frauen. Mit ihrem eigenen Verein bietet sie für Frauen aus benachteiligten Familien in Saint Henri und dem Nachbarort L’Estaque Sozialberatung, Kurse in Haushaltsführung, Wellness- und Gesundheitsnachmittage. Oft begleitet Sie Frauen, die kaum französisch sprechen und die Bürokratie nicht verstehen zu Behörden, Sozial- und Krankenversicherung.
Koran und andere islamische Schriften liegen auf einem Tischchen / Koran and other islamic books on a side table / Foto: Robert B. Fishman, ecomedia, 3.2.2012
So viel Not wie in Marseille hat Djamila „noch nie gesehen.“ Früher habe sie immer Schulhefte, Bücher und alles Mögliche für arme Familien nach Algerien mitgenommen. „Seit ich in Marseille wohne mache ich das nicht mehr. Die Leute hier brauchen die Hilfe dringender.“ Manche könnten sich nicht mal genug Essen kaufen. Sie kenne viele Frauen, die noch nie aus ihrem Viertel heraugekommen seien. Die Gründe: „Kein Geld, keine Betreuung für die Kinder oder die Männer, die nicht erlauben, dass ihre Frauen ausgehen.“ Deshalb organisiert sie Ausflüge für die Nachbarinnen, zum Beispiel ins Kino nach Marseille. Viele seien noch nie in der zehn Kilometer nahen Innenstadt gewesen.
Djamila selbst lebt mit ihrer 11jährigen Tochter von 600 Euro im Monat. Trotz Beamtenausbildung und reichlich Berufserfahrungen, hat sie seit ihrem Umzug nach Marseille keine Arbeit mehr gefunden. „Ab 45 hast Du kaum noch eine Chance und mit einem arabischen Namen ist es noch schwerer – vor allem hier in Marseille“, sagt die 52jährige, die als Beamtin eigentlich ein Recht auf Einstellung hätte. Auf zahlreichen Behörden liegt ihre Bewerbung. „Wir melden uns, wenn wir etwas haben“, lautet die Standard-Antwort auf ihre zahlreichen Nachfragen.
Djamila, die sich viele Jahre lang politisch engagiert hat und für die linkssozialdemokratische Parti Radical de Gauche in Gemeinderäten gearbeitet hat, erwartet von der Politik – wie so viele hier – nichts mehr. „Jetzt im Wahlkampf kommen sie alle, aber wenn sie die Leute nicht mehr als Wähler brauchen, ist es vorbei. Dann sind hier nur noch ein paar kleine Vereine, die kein Geld haben und ihr bestes tun, um den Leuten wenigstens ein bisschen zu helfen.“
Ihre Kraft schöpft Djamila trotz ihres weltlichen Lebensstils – ganz ohne Kopftuch oder Schleier – aus dem Glauben. Den Koran und andere heilige islamische Schrften hat sie auf einem zum Altar umgestalteten Tischchen im Wohnzimmer aufgestellt. Zu Ramadan teilt sie das Wenige, das sie hat mit denen, die es noch schwerer haben. „Mama stellt immer einen zusätzlichen Teller mit Essen für die Armen auf“, ergänzt ihre Tochter Rosa, die die ganze Zeit aufmerksam zugehört hat und nicht von der Seite ihrer Mutter weichen wollte. Allah, sagt Djamila, habe ihr die Kraft gegeben, immer wieder aufzustehen und weiter zu kämpfen. Nun habe er ihr eine neue Aufgabe gestellt: Das Leben mit ihrer Tochter in Marseille.
P.S.: meine Reportage ist von 2012, aber leider immer noch aktuell
und hier meine Weltzeit-Sendung im Deutschlandradio zum Nachhören