Wolfgang Krisai: Schloss La Rochefoucauld. Buntstift. 2013.
Wer sich je mit der Gattung des Aphorismus befasst hat, stößt zwangsläufig auf einen der großen frühen Aphoristiker: François de La Rochefoucauld. Gewusst habe ich also schon lange von ihm, gelesen aber nichts.
Heuer im Sommer kamen wir durch den Ort La Rochefoucauld gleich bei Angoulême und besichtigten dort das imposante Schloss der Familie des Autors. Die Herzöge von La Rochefoucauld sind noch heute Besitzer des Schlosses. In der Barockzeit lebte François VI., der durch seine Maximen und Reflexionen unsterblich geworden ist. Geboren wurde er übrigens 1613, er zählt also zu den prominenten Jubilaren des heurigen Jahres. Gestorben ist er 1680.
Schon in Angoulême hatte ich mir eine französische Taschenbuchausgabe der „Maximes“ gekauft und zu lesen begonnen. Alles zu verstehen erlaubte mir aber mein mangelhaftes Französisch nicht, daher kaufte ich mir zu Hause dann die zweisprachige Reclam-Ausgabe. Sie enthält nicht nur alle Maximen, sondern auch einen ausführlichen Kommentar und ein informatives Nachwort über den Autor und die Aphorismen.
Unverändert aktuell
Was ich nicht erwartet hätte: dass fast alle seiner Maximen heute unverändert aktuell sind. Die von ihm aufgezeigten schlechten Eigenschaften des Menschen haben sich eben nicht geändert. Noch immer lieben wir uns selbst mehr als unsere Mitmenschen, verfallen wir dem Dünkel, der Ruhmsucht oder der Trägheit (die La Rochefoucauld als besonders mächtige, weil auf leisen Sohlen daherkommende, Vernichtungskraft brandmarkt). Häufig bilden wir Menschen uns etwas ein, zum Beispiel, wie edelmütig wir doch wären, und in Wirklichkeit, so La Rochefoucauld, steckt nur Eigennutz dahinter. Sogar das Mitleid ist nur ein Mittel, uns selbst besser zu fühlen.
Immer wieder ist man amüsiert, wie treffend La Rochefoucauld die menschlichen Unzulänglichkeiten erfasst. Und nicht selten fühlt man sich ertappt.
Ein paar Kostproben:
Wer sich zu viel mit Kleinem abgibt, wird gewöhnlich unfähig zum Großen. (Maxime Nr. 41)
Ein kluger Mensch muss seine Interessen einzustufen wissen und ihre Rangfolge im Auge behalten. Unsere Begierde bringt sie oft durcheinander und lässt uns so viele Angelegenheiten zugleich verfolgen, dass wir die wichtigsten verfehlen, weil wir die weniger wichtigen für vordringlich hielten. (66)
Mit der wahren Liebe verhält es sich wie mit Geistererscheinungen: Alle Welt redet davon, aber nur wenige haben welche gesehen. (76)
Jedermann klagt über sein Gedächtnis und keiner über seinen Verstand. (89)
Mit nichts ist man so freigiebig wie mit seinen Ratschlägen. (110)
Man begeht öfter aus Schwäche Verrat als aus der festen Absicht, Verrat zu üben. (120)
Für gewöhnlich lobt man nur, um gelobt zu werden. (146)
Schmeichelei ist ein Falschgeld, dessen Wert unsere Eitelkeit bestimmt. (158)
Während Trägheit und Zaghaftigkeit uns in den Grenzen unserer Pflicht halten, heimst die Tugend oft die ganze Ehre dafür ein. (169)
Die wahre Beredsamtkeit besteht darin, alles zu sagen, was nötig ist, und nur das zu sagen, was nötig ist. (250)
Die Jugend ist eine beständige Trunkenheit; sie ist das Fieber der Vernunft. (271)
Das so überaus große Vergnügen, das es uns bereitet, von uns selbst zu reden, sollte uns befürchten lassen, dass wir unseren Zuhörern damit keineswegs gefallen. (314)
Die Wahrheit des folgenden Aphorismus ist meiner Frau an mir schon längst aufgefallen: Man bewahrt sich den Akzent seines Geburtsortes im Geist und im Herzen ebenso wie in der Sprache. (342)
Und der folgende, scheint mir, trifft auf den Grafen Wronski aus „Anna Karenina“ zu: Ein Mann von Welt kann wie ein Verrückter verliebt sein, aber nicht wie ein Dummkopf. (353)
In einer Stellung, die unser unserer Befähigung liegt, können wir groß erscheinen, aber in einer Stellung, die größer ist als diese, erscheinen wir oftmals klein. (419)
Man darf den Wert eines Menschen nicht nach seinen großen Gaben beurteilen, sondern nach dem Gebrauch, den er davon macht. (437)
Es gibt keine lästigeren Dummköpfe als die witzigen. (451)
Junge Leute müssen bei ihrem Eintritt in die Gesellschaft verschämt oder unüberlegt sein; treten sie kennerhaft und selbstsicher auf, so verwandelt sich ihr Verhalten für gewöhnlich in Impertinenz. (495)
Knapp 200 Reclam-Seiten Menschenkenntnis also:
François de La Rochefoucauld: Maximes et réflexions morales / Maximen und Reflexionen. Französisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Jürgen von Stackelberg. Reclam, Stuttgart, 2012. Reclams Universalbibliothek 18877. 287 Seiten.