Für eine Neuinterpretation der Work-Life-Balance.
Es ist ein Gemeinplatz und wird doch hartnäckig verdrängt: Als Otto von Bismarck in Deutschland Anfang 1891 die Invaliditäts- und Altersversicherung einführte, hatte darauf nur Anspruch, wer das 70. Lebensjahr erreichte. Das waren etwa 2% der deutschen Bevölkerung. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt lag damals für Männer bei knapp 41 Jahren, für Frauen bei 44 Jahren. Das Leben war Arbeit.
Am Anfang des Lebens steht heute eine in den letzten Jahren noch länger gewordene Ausbildungsphase, die in der Schweiz wegen des relativ späten Schulbeginns jedenfalls für Studierende überdurchschnittlich lange dauert.
Dann folgt die Erwerbsphase, in der das Individuum den eigenen Lebensunterhalt und den der Kinder finanziert, für seinen Lebensabend anspart und mittels Umlageverfahren auch noch bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene ältere Mitbürger mitfinanziert. Da die Ausbildungsphase tendenziell länger wird und die Phase als Rentner wegen der Jahr für Jahr um rund einen Monat steigenden Lebenserwartung ohnehin, muss in der Erwerbsphase immer noch mehr geleistet werden.
Und dann kommt für viele wie eine Guillotine, für andere herbeigesehnt, der Tag der Pensionierung; nur noch Freizeit, das ganze Jahr Ferien, vielleicht auch innerliche Leere. Das große Lebensziel scheint die Rente zu sein (und unter dem Jahr die Ferien). Auf sie arbeitet man hin, auf sie freut man sich, endlich das Leben genießen zu können, befreit von Stress und Leistungsdruck.
Wäre nicht ein Lebensentwurf sinnvoller, der Ausbildung zur Daueraufgabe machte, der während einer viel größeren Lebensspanne Arbeit, Ausbildung und Freizeit in unterschiedlichem Ausmaß mischen würde? Ein Weg, der den Menschen schon in der Mitte des Lebens neben der Arbeit mehr Platz ließe für Familie und Freizeit und der es ihnen umgekehrt erlaubte, auch mit 70 oder 75 (in Teilzeit) einer Arbeit nachzugehen? Es wäre die Abkehr vom Jugendlichkeitswahn und die Anerkennung der Erfahrung als Wert neben Leistungsfähigkeit.
Arbeit und Freizeit, Leistung und Konsum, Anstrengung und Erholung, Alltag und Feste gehören zusammen, nicht hintereinander, sondern nebeneinander. Das verlangt allerdings ein Umdenken bei Arbeitnehmern wie Arbeitgebern. Aber wir sind in die Irre gegangen, als wir begonnen haben, die Zeit zwischen dem 30. und dem 60. Lebensjahr zu sehr als Jahre der Erwerbsarbeit und die Zeit zwischen dem 60. und dem 90. Lebensjahr zu ausschließlich als Jahre des Genießens zu definieren. (NZZ vom 29.8.2011)