Fragmente des Glücks

Von Guidorohm

Wir sitzen auf dem Dach. Die Sonne brennt; es ist unerträglich heiß geworden. Trotzdem bleiben wir sitzen. Wir schatten nicht einmal die Augen ab. Wir halten sie geschlossen.
Fanny rülpst irgendwann. Ich nehme es zur Kenntnis. Mehr nicht.
Ich rege mich nicht auf. Ich lache nicht. Es ist zu heiß für menschliche Regungen.

Unter uns fahren die Autos. Buse. Taxis. Wir können sie hören. Sie hupen. Stimmen sind nicht zu hören. Die Strecke bis nach unten ist zu weit.
Unten ist es schattig. Und auch ein wenig windig.
Die Stimmen kommen hier oben nicht an. Sie verwehen.

„Hast du eine Zigarette?“, sagt Fanny.
Ich schiebe ihr die Hartpackung mit den Füßen rüber. Sie wird sich eine Zigarette nehmen. Ich vermute es. Ich sehe nicht hin.
Nur nicht die Augen öffnen, denke ich.

Über uns schwebt ein Hubschrauber. Nur kurz. Es könnte ein Hubschrauber der Polizei sein. Das bringt ein bisschen Aufregung in unseren Tag.
„Die Polizei?“, frage ich.
„Ich weiß es nicht“, sagt Fanny.
„Dann sieh doch mal nach“, sage ich.
„Sieh doch selber nach!“
Der Hubschrauber muss ganz nahe sein. Er muss über uns schweben. Wir können den Wind spüren. Er könnte einen Schatten auf uns werfen. Vielleicht irre ich mich aber auch.
Er fliegt weiter. Wir werden es nie erfahren.
„Vielleicht suchen die einen Ausbrecher“, sage ich.
Fanny antwortet nicht.
Die Sonne. Die Hitze. Ich verstehe das.

Wir erzählen uns Geschichten. Irgendwie muss man ja irgendwann die Langeweile vertreiben.
„Stell dir vor“, sage ich, „da käme plötzlich ein Typ hier aufs Dach, der sich in die Tiefe stürzen will.“
„Ein Selbstmörder?“
„Natürlich ein Selbstmörder.“
„Und?“
„Was würden wir tun?“
„Wir würden ihm zusehen.“
„Würdest du wegen eines Irren die Augen öffnen.“
„So etwas bekommt man nicht alle Tage geboten.“
„Du bist unerträglich.“
„Wir sind uns ähnlich.“
Ich lache nicht. Ich öffne meine Augen. Nur leicht. Lass den Körper von Fanny in meinen Kopf eindringen. Ihren dürren Leib, der vom vielen Hungern schon ganz hässlich geworden ist. Ihr Brüste liegen schlaff wie zwei abgestochene Fußbälle auf ihr drauf. Ihr Aussehen kann es nicht sein, warum ich bei ihr bleibe.
Ich beuge mich nach vorn. Strecke mich. Greife nach den Zigaretten.
„Was machst du da?“, fragt Fanny.
„Ich hole mir die Kippen. Irgendwas muss man ja tun.“
„Muss man nicht“, sagt Fanny.
Ich wische mir mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Klemme mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Zünde sie an. Sauge. Rauche.
„Saug lieber an meinen Titten“, sagt Fanny.
„Später“, antworte ich.

Ich könnte sie schlagen. Ihren Körper zum Rand des Daches schleppen. Sie in die Tiefe fallen lassen.
Das würde diesen Tag völlig verändern. Nicht nur meinen Tag. Auch den Tag von einigen der Autofahrer dort unten.
Eine solche Tat würde mein Leben in eine völlig neue Richtung stoßen.
Ich male es mir in meinen Gedanken aus.
Ich sehe mich bereits in Häftlingskleidung. Ich würde jeden Tag trainieren. Meinen Körper stählen. Er würde vor lauter Muskeln überlaufen.
Später dann könnte ich ausbrechen. Warum auch nicht? Ausbrüche sind möglich. Das liest man immer wieder.
Ich denke an diesen Film. Mit wem war der nur?
Die Schauspieler fallen mir einfach nicht ein. Das macht mich wütend. Sauwütend.
Wenn diese Hitze nicht wäre, dann würde ich aufschreien. So bleibe ich sitzen und koche in der Sonne.
Ich könnte noch eine weitere Zigarette rauchen.
Warum nicht!

Fanny sagt nichts mehr. Sie ist eingeschlafen. Oder tot. Mir ist das einerlei.
Ich zupfe an meinem Bauch. Ich setze langsam Fett an. Ich muss etwas dagegen tun.
Ich könnte mich in einem Fitnessclub anmelden. Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich will.
„Diese Sonnentage“, sage ich“, das sind perfekte Tage.“
Stille.
Blöde Kuh, denke ich.
Ich muss kichern, weil es ja wirklich sein könnte, dass sie gestorben ist.
Die Leute suchen sich die Orte zum Sterben ja schließlich nicht aus.

Fanny ist nicht tot. Sie raucht eine Zigarette. Die Sonne verglüht allmählich am Abendhimmel. Sie taucht den Himmel in Lachen aus Blut.
„Was machen wir heute Abend?“, fragt Fanny.
„Wir sehen uns einen Film an.“
„Welchen Film?“
„Ich weiß es nicht.“
Sie fragt nicht weiter nach.
Wir sitzen nackt auf dem Dach und schweigen. Ich genieße diesen Augenblick. Ich fühle mich glücklich. So unendlich glücklich.
Es geht uns gut. Sehr gut sogar.
Wir werden irgendwann sterben. Der Tod ist ein Scheißort. Also muss man den Moment genießen.
Fanny und ich tun das.
Wir versuchen es jeden Tag wieder.

Ein leichter Wind ist aufgekommen.
„Wir sollten nach unten gehen“, sagt Fanny.
„Das sollten wir tun.“
Wir bleiben sitzen. Wir rauchen. Wir sehen uns an. Wir wollen gar nicht wirklich wissen, was wir über uns denken. Es interessiert uns nicht.
Fanny versucht sich an einem Lächeln.
„Du bist wunderschön“, lüge ich.
Ihr Lächeln wird breiter und macht sie noch hässlicher. Ich muss zur Seite blicken.
„Und morgen?“
„Morgen werden wir uns wieder hier sonnen“, sagt Fanny. „Wer weiß, wie lange es noch so schön ist.“
„Ja“, sage ich.

Die Schatten werden länger. Es kühlt merklich ab.
Fanny und ich sitzen noch auf dem Dach.
Wir können uns einfach nicht aufraffen. Es geht nicht. Es ist, als wäre ein Magnet unter unseren Ärschen angebracht.
Fanny lehnt sich nach hinten.
„Wir könnten hier schlafen“, sagt sie.
„Wir würden uns erkälten.“
„Früher warst du mutiger.“
„Wann?“
„Ich weiß es nicht mehr.“

Ich steige die Stufen nach unten. Langsam. Vorsichtig. Meine Beine fühlen sich zittrig an.
Fanny ist geblieben.
Soll sie doch auf dem Dach verrotten, denke ich.
Ich halte inne. Stütze mich am Geländer ab. Der Kreislauf macht mir Schwierigkeiten.
Ich habe mir wohl eine Überdosierung Sonne verpasst.
Ich atme laut und hörbar ein und aus. Ich lausche meinem eigenen Atem. Ganz bewusst.
Das bin ich, denke ich.
Nach ein paar Minuten steige ich weiter hinab. Und mit jeder Stufe fühle ich mich besser.
Nach zwei Etagen habe ich Fanny nahezu vergessen.
Ich werde ausziehen. Ganz bestimmt sogar. Wenn sie nachher kommt, werde ich ihr meine Entscheidung mitteilen.
Ich werde sagen: „Ich ziehe aus.“
Sie wird schluchzen. Weinen. Aber das wird mich nicht umstimmen.

Ich habe Fanny nicht gehört. Sie muss viele Stunden später nachgekommen sein. Ich habe keine Lust, sie danach zu fragen.
Die Morgensonne strahlt ins Zimmer.
Fanny sieht mich ausdruckslos an und fragt: „Was machen wir mit diesem Tag?“
„Ich weiß es nicht.“
Sie schenkt mir die Andeutung eines Nickens.
„Wollen wir miteinander schlafen?“, frage ich.
„Nicht jetzt“, sagt sie. „Später. Vielleicht später.“
Ich blicke auf ihren Rücken. Ihr Rückgrat drückt sich durch die Haut. Sie ist ein mit Haut überzogenes Skelett geworden. Ich würde nur aus Pflichterfüllung mit ihr schlafen. Ich bin froh über ihr Antwort.
Ich schließe die Augen. Ich sehe mich auf der Treppe stehen. Ich lausche meinem Atem.
Ich sollte zum Arzt gehen. Ich könnte Asthma haben. Oder Krebs. Ich fühle mich in der letzten Zeit so müde.
Ich könnte mit Fanny darüber reden. Ich will es nicht. Ich rede nicht mit ihr darüber.
Wir liegen im Bett. Der Raum wird mit unserem Schweigen geflutet.
Wir werden nicht an unserem Schweigen ersaufen. Wir haben immer noch das Dach.
Wir werden aufstehen und nach oben auf das Dach steigen. Wir werden die Sonne genießen und uns einreden, wir wären ein glückliches Paar.

Fanny ist ausgezogen. Das ist nicht weiter schlimm. Ich sitze alleine auf dem Dach.
Ich rauche eine Zigarette und blinzel in die Ferne.
Und dann, obwohl ich es auf keinen Fall wollte, muss ich an Fanny denken.
Aber zum Glück währt diese kitschige Gefühlsaufwallung nicht lange. Schon einen Zigarettenzug später ist der Spuk bereits beendet.
Ich sitze in meinem Liegestuhl und lauschen den Autos unten auf der Straße.
Ich könnte springen, denke ich.
Ich werde es nicht tun. Es ist zu heiß. Bei einem solchen Wetter kann man die Kraft für einen Selbstmord nicht aufbringen.
Also bleibe ich sitzen und warte.