Fragen an Selma Wels vom Verlag binooki in Berlin Schöneberg

Inci Bürhaniye (auf dem Foto links) und Selma Wels sind zwei in Pforzheim geborene Schwestern. In Deutschland aufgewachsen, ist ihre zweite Heimat Istanbul.
Eines Tages entstand in beiden Frauen der Wunsch, Bücher türkischer Autoren in Deutschland publik zu machen. Sie gründeten in Kreuzberg einen Verlag, sind inzwischen aber nach Schöneberg gezogen. Auf ihrer Webseite erzählen sie, warum sie sich binooki nennen:
Unser Name leitet sich aus dem Wort Binokel, dem Zwicker, ab. Wir fügten nur noch ein “o” hinzu, damit in unserem Logo auch das Wort “book” hervorzuheben. Jetzt waren wir ganz offiziell Verlegerinnen.
 Seit Januar 2012 gibt es binooki und viele großartige Bücher großartiger türkischer Autoren wie Oğuz Atay, Emrah Serbes, Alper Canigüz, Baris Uygur sind seitdem auf Deutsch erschienen.

© Stephan Pramme

© Stephan Pramme

Nicht immer läuft im Verlag alles glatt. So beispielsweise, wenn geplante Übersetzungen nicht stattfinden oder politische Ereignisse auf tragische Weise eine Lesung in Berlin beeinflussen und ein Autor beinah gar nicht kommen kann. Beides passierte bei Deliduman. Beim Lesen des Romans sind mir deshalb viele Dinge durch den Kopf gegangen und so habe ich Selma geschrieben … 

Hier sind ihre Antworten auf meine Fragen:

1. Deliduman sollte ja bereits im Sommer erscheinen. Ich erinnere mich genau, wie geschockt du uns auf der letzten Leipziger Buchmesse erzählt hast, dass der Übersetzer kurzfristig absagen musste. Damit würde sich das Erscheinen der deutschen Ausgabe um Monate verschieben.
Was bedeutet das für einen Verlag wie binooki? Ihr hattet den Roman doch sicher bereits fest eingeplant?

Als klar wurde, dass der erste Termin nicht gehalten werden kann, dachte ich, die Welt würde untergehen. Wie ich festgestellt habe, ging sie nicht unter und im Grunde ist alles nur halb so schlimm oder manchmal auch gar nicht so schlimm, wie man im ersten Moment denkt. Es gibt Dinge, die man ändern kann und Dinge, die man nicht ändern kann. Ich habe die ganze Zeit über gedacht: “Okay, es ist jetzt so. Wer weiß wofür es gut ist?”
Diese Frage kann ich im Nachhinein sehr klar beantworten und diese Klarheit habe ich am 10.10.2015 erlangt. Wie wir wissen ist Emrah Serbes bei jeder Demonstration mittendrin und ganz vorne dabei. Am 9.10. war die Buchpremiere in Berlin und das Erste, was er sagte, als wir ihn am Flughafen abholten: “Wenn es nicht um Deliduman ginge, und wenn ich nicht schon vor Monaten zugesagt hätte, dann wäre ich morgen in Ankara. Seit 10 Tagen steht der Termin für eine Friedens-Demo in Ankara. Ich müsste jetzt eigentlich dort sein.”
Am 10.10.15 hat die Türkei den größten Terroranschlag ihrer Geschichte erlebt. Über hundert Menschen sind gestorben, mehrere Hundert wurden verletzt. So wie sich die Dinge gefügt haben, war er hier und nicht dort. Er selbst fühlte sich schuldig, nicht bei seinen Freunden sein zu können. Ich bin mehr als froh, dass er hier war und er wäre ganz sicher nicht in Berlin gewesen, wenn Deliduman schon im Juni erschienen wäre.

2. Das ist wirklich ein verrückter Zufall. Und was für ein tragisches Glück, dass Emrah Serbes in Berlin gewesen ist. Alles wäre anders gekommen, wenn der Übersetzer im März nicht abgesagt hätte. Wann ist dann die Entscheidung gefallen, dass du den Roman selbst übersetzen wirst? Was bedeutete das für dein Zeitmanagement in der täglichen Verlagsarbeit?

Die Entscheidung fiel relativ schnell. Da ich schon Fragmente von Emrah Serbes übersetzt und mich dadurch schon in seinen Kopf und in seine Sprache eingefühlt hatte, war diese Entscheidung die einzige logische Konsequenz. Nach der Leipziger Buchmesse habe ich dann ab April zu Hause mein Homeoffice eingerichtet. Ich war nur einmal die Woche im Büro und die übrigen Tage haben meine Schwester Inci und unsere ehemaligen Praktikantinnen Elisabeth und Alexandra unter sich aufgeteilt. Im Juni waren Emrah und ich dann knappe drei Wochen auf Tour mit Fragmente und danach saß ich den Sommer über wieder am Schreibtisch zu Hause. Wir haben die Situation so gut es ging gemanaged. Meine Konzentration lag in dieser Zeit allerdings ganz klar auf dem Buch.

3. Ich finde immer wieder die Frage spannend, wie man beim Übersetzen an einen Text herangeht. Hast Du den Roman direkt Satz für Satz übersetzt? Oder hast du ihn erst komplett auf Türkisch gelesen, um dann dem “Blues der Sprache” von Emrah Serbes zu folgen und ihn auf Deutsche wiederzugeben?

Ich habe den Roman kurz nach Erscheinen in der Türkei erst einmal komplett -und mit großer Freude – gelesen. Damals wusste ich ja nicht, dass ich es eines Tages übersetzen werde. Aber ich weiß noch, wie ich bei der einen oder anderen Stelle an den Übersetzer dachte und ihm in Gedanken ein schmunzelndes “Na, viel Spaß beim Übersetzen” zuschickte. Nun gut, den Spaß hatte ich dann. Und ich hatte auch wirklich Spaß dabei. Beim Übersetzen versuche ich sehr nah am Original zu bleiben. Das geht nicht immer, aber meistens. Der Autor hat schon seine Gründe, warum er das so geschrieben hat und dieser Autor ganz besonders.

4. Die Spannung steigert sich zum Ende des Romans ins fast Unerträgliche. Eine Achterbahnfahrt der Emotionen!
Ich als Leser habe mir ganz bewusst kleine Pausen genommen, um es auszuhalten. Wie ging dir das beim Übersetzen? Hast du das auch getan, um Kraft zu tanken für die nächsten schockierenden Bilder oder hast du alles atemlos durchgearbeitet?

Ich habe mir auch Pausen genommen, natürlich. Ich habe zwar fast jeden Tag daran gearbeitet, aber ich habe anders gearbeitet, als im “normalen Leben”. Ich bin immer von alleine morgens um 5 Uhr aufgewacht, habe mir einen Kaffee gemacht und mich an den Schreibtisch gesetzt. Da saß ich dann, versunken in die Welt von Cigdem und Caglar, bis 14 Uhr. Dann habe ich zwei Stunden Pause gemacht und mich wieder an den Tisch gesetzt und gelesen, was ich die 9-10 Stunden zuvor übersetzt habe. Wenn ich übersetze, liegen übrigens immer ein Block und ein Stift auf meinem Nachttisch. Wie ich festgestellt habe, kommen mir die Lösungen für die Stellen im Text, die mich noch nicht so umgehauen haben, immer nachts. So gesehen: Ich glaube, ich hatte doch keine Pausen.

Aber ich muss noch dazu sagen: Ich habe die Gezi-Proteste ja schon in 2013 pausenlos verfolgt. Auch das Buch kannte ich bereits und wusste, was passiert. Deliduman hat aber dafür gesorgt, dass ich mich noch mit etwas anderem beschäftige: mit Michael Jackson und dem Moonwalk. Ich glaube, ich habe YouTube leergeguckt und kann mittlerweile sehr textsicher “They Don´t Care About us” mitsingen.

5. Ich mochte ja besonders an dem Roman, dass man Caglar so ganz authentisch sprechen hört und gestikulieren sieht. Ich hatte direkt seine Stimme im Ohr.
Emrah Serbes hat ihm die Sprache und den Ausdruck eines Teenagers geschenkt. Ich mochte das bei seinem Erzählband junge verlierer schon sehr.
Wie ist das, habt Ihr mal überlegt, junge Berliner Türken zu verlegen? Immerhin würde die Übersetzer-Arbeit wegfallen. Oder bleibt Ihr dabei, ausschließlich türkische Literatur nach Deutschland zu holen und hier bekannt zu machen?

Das stimmt. Die Charaktere von Emrah Serbes sind immer sehr authentisch. Caglar ist es, Cigdem ist, Bazillen-Cengiz und der Bär Tufan Agbi (den ich übrigens ganz besonders mag), sind es. Ebenso wie die Jungs aus junge verlierer und sein Hauptkommissar Behzat C. Emrah Serbes ist ein ganz aufmerksamer und sensibler Beobachter. Und er hat die große Gabe, diesen Beobachtungen durch seine Figuren Leben einzuhauchen.

Erst mal bleiben wir dabei, ausschließlich türkische Literatur nach Deutschland zu holen. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt. Das ist ja das Schöne an der Unabhängigkeit: Man kann tun und lassen, was man will.

6. So glücklich ich über das Erscheinen von Deliduman bin, so neugierig bin ich auch über weitere Projekte von Emrah Serbes.
Du hattest gesagt, dass er nach dem Bombenanschlag in Ankara vom 10.10.15 die ganze Nacht gesessen und geschrieben hätte. Darfst du dazu schon etwas sagen?

Ich weiß nicht, was aus diesen Notizen wird, die er sich hier in Berlin gemacht hat. Aber wenn eines Tages ein Roman daraus wird, dann hätte dieser seinen Anfang nicht in Istanbul, Yalova oder Ankara genommen, sondern in Berlin. Der literarische Brückenschlag, der uns so am Herzen liegt, würde in diesem Fall noch mal eine ganz andere Bedeutung bekommen.

7. Ein schönes Bild, mit der Brücke! Aber so ein Roman braucht seine Zeit –
Kannst du uns vielleicht schon etwas aus dem Programm Frühling 2016 verraten. 
Liegt dir und deiner Schwester Inci ein Titel besonders am Herzen? Und wenn ja, welcher ist das?

Im Frühjahr erscheint tatsächlich etwas, was uns beiden sehr am Herzen liegt, nämlich das Hauptwerk von Oguz Atay in der Übersetzung von Johannes Neuner. Der momentane Arbeitstitel ist Die Haltlosen. Am Finishing arbeiten wir gerade. Oguz Atay ist einer der wichtigsten Literaten der Türkei, der sich nach einer Schaffensphase von nur sieben Jahren (1970 bis zu seinem Tod 1977) einen Namen als Wegbereiter des modernen türkischen Romans gemacht hat und vielen jungen Schriftstellern in der Türkei heute noch ein Vorbild ist.

8. Ich danke dir ganz herzlich für das Interview und würde mich über einen persönlichen Buchtipp von dir (gerne Indie / gerne türkischer Autor) freuen.

Ich danke dir auch ganz herzlich und hier kommt noch mein Tipp: Eigentlich alles von Lütfiye Güzel. Zuletzt habe ich von ihr Pinky Helsinki gelesen und finde es großartig. Sie lebt in Duisburg und schreibt auf Deutsch. Ihre Bücher bringt sie selbst heraus – mehr Indie geht nicht.

Vielen Dank an den Verlag binooki für dieses großartige Interview. Und wer jetzt auch neugierig auf Lütfiye Güzel ist, der kann sich gern mit dem kleinen Gedicht hatte so großes vor  auf sie einstimmen.
In den nächsten Tagen gibt es dann hier noch mehr zum Roman Deliduman.

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