Fotografische Streifzüge ins Wortreich - Wintersonne

Erstellt am 27. Januar 2013 von Antje Radcke @ARadcke

Eigentlich wollte ich ja heute damit anfangen, meinen Küchenfußboden zu verlegen. Aber...
... der Blick auf die Wettervorhersage zog mich nach draußen - wer weiß, wie lange die herrliche weiße Pracht noch genießbar ist. Und vor allem schien die Sonne, die lange vermisste. Das wollte ich ausnutzen.
Es hat sich gelohnt. Gut zwei Stunden bin ich durch den Wald gestiefelt - auf unbekannten Wegen und das eine oder andere Mal verstohlen mit Unterstützung von GPS auf GoogleMaps nachgeschaut, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin. Meine Fotokamera hatte ich wie immer dabei und als ich dann wieder zuhause im Warmen saß und meine Fotos sichtete, stellte ich fest, dass die meisten Bilder von der Sonne erzählten. Von der Wintersonne.
Nun war ich neugierig, was das "Projekt Gutenberg" zum Thema Wintersonne zu bieten hat:
392 Fundstellen, die alle in der einen oder anderen Weise das Wort "Wintersonne" - oft auch in Form von "Wintersonnenwende" - enthalten. Der Einfachheit halber bin ich der Reihe nach vorgegangen und habe dann aufgehört zu suchen, als ich genügend Material zur wortreichen Untermalung meiner Fotos zusammen hatte. Bei der Auswahl ließ ich mich vom Titel des Werkes oder vom interessanten (auch unbekannten) Namen des Autors bzw. der Autorin leiten.
Der erste Treffer führte mich zu dem mir völlig unbekannten Autor Max Dauthendey. Als einziger hatte er eines seiner Werke mit Wintersonne betitelt. Und deshalb - und nur deshalb - habe ich ihn hier aufgenommen. Sein Text ist mir ansonsten zu verschwurbelt, das Lesen mir zu anstrengend.
Es geht ein Licht vom Himmel wie Rosenmilch. Geht durch die leeren Bäume über den Schnee, über das Schilfdach einer Hütte, über einen kauernden blauen Mann und eine gelbe ziehende Herde.
Der Schnee in blauen Scherben auf dem Hüttendach, um die Hütte in gelben Meerschaumwellen. Vergißmeinnichtblüten und Rosa in den Schneegruben. Der Schnee knistert fiebernd wie Seide. Seiden die Luft, goldweiß und goldrosig gestrählt.
Opalfarben schweben über den Schnee, kaum hörbar, zart wie der Atem der Perlen...
Der nächste Kandidat ist Joseph von Lauff. In seinem Roman Anne-Susanne, Kapitel 15, beschreibt er die Wintersonne so:
... eine endlose Schneespreite, nur ab und zu von goldenen Fäden durchstreift, die die bereits tiefstehende Wintersonne in die Felder hineingestickt hatte. Und diese goldenen Fäden wurden breiter und länger. Sie glitzerten wie die Rauschgoldpartikelchen auf dem Sterbekleid einer Verblichenen. Sie verschönten die tote Erde und hießen sie lächeln...
Es folgt ein Textauszug aus Hofluft, Kapitel 1, von Nataly von Eschstruth. Allein ihr vollständiger Name klingt bereits wie Poesie: Nataly Auguste Karline Amalie Hermine von Eschstruth (Ehename: Nataly von Knobelsdorff-Brenkenhoff). Sie gilt als eine der beliebtesten Erzählerinnen der wilhelminischen Epoche. Ihr Beitrag zur Wintersonne:
...Wohl hatte die klare Wintersonne am Himmel gestanden und mit blendend grellem Lichte Milliarden von bläulichen Funken aus den weiten Eis- und Schneeflächen geweckt, aber ihr Kuß war matt und kühl...
Gefesselt hat mich ein Text von Rahel Sanzara (Pseudonym für Johanna Bleschke) - nicht unbedingt der Wintersonne wegen sondern wegen der Handlung ihres sehr düsteren Romans Das verlorene Kind (hier ein Auszug aus Kapitel 7). Auch Rahel Sanzara war mir bis heute nicht bekannt. Das wird sich ändern, denn ihren Roman werde ich demnächst lesen (eine eben entdeckte SPIEGEL-Rezension - von 1983 - macht mich neugierig). Bei Rahel Sanzara klingt der Winter so:
...Der Winter begann in derselben Pracht, in der der Sommer geendet hatte. Leuchtend waren Tag und Nacht die weißen Felder im Schnee, die Teiche im Kristall des Eises. Drei Tage und Nächte hatte im November der Sturm geweht, die Bäume kahl gefegt, den Himmel mit Wolken überzogen. Nun war schon lange alles still, die Luft klar in der Kälte, und im rötlichen Schein der Wintersonne schwebte sie über den Feldern wie Schleier aus zartem Gold, umschmiegt von dem weichen, dunklen Blau des Horizontes. In den Nächten des Neumondes überzogen Wolken den Himmel, und es schneite von neuem. Die vollkommene Ruhe über der Natur war Trauer und Fest, Leben und Tod zugleich. Es schwieg der Lärm des Lebens, des Wachsens, der Geburt, und es sprach die Stille des Todes, seine erlösende Verheißung in der Nacht...
Und nun folgt noch eine echte Entdeckung: Ein Grüner, der bereits von 1866 bis 1905 im Dienste der Umwelt und Natur gelebt hat (und damals von vielen gelesen wurde): Dr. Curt Grottewitz (eigentlich Max Curt Pfütze) beschreibt in Kapitel 12 von Sonntage eines Großstädters in der Natur auch die Wintersonne:
... Die Wintersonne lachte am weißlich-blauen Winterhimmel. Ihre Kraft war zwar nicht groß genug, um den starr gefrorenen Boden auch nur einigermaßen zu erweichen, aber ihre Strahlen milderten doch die Strenge der klaren Luft...
... So ging der Spaziergang vorbei. Das Endergebnis für alle waren nasse Füße, ein gereiztes Gehirn, als ob die dünnen, in der Wintersonne glänzenden nackten Baumäste als Splitter in der Netzhaut stecken geblieben wären, der gemeine Wunsch nach heißem Kaffee und das Gefühl menschlicher Verlorenheit... (aus: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 54 von Robert Musil)

Die Serie "Fotografische Streifzüge ins Wortreich" wird in lockerer Reihenfolge forgesetzt. Bisher erschienen: