Wie entwickelt sich ein Ökosystem? Das weiß noch niemand. Doch ein weltweit einzigartiges Projekt geht dieser Frage nach: In einem ehemaligen Kohletagebaugebiet in Brandenburg wurde eine sechs Hektar große Fläche von der Umgebung abgetrennt und sich selbst überlassen. Wissenschaftler der Technischen Universität München (TUM) untersuchen dort in Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtungen die Entwicklung des Bodens sowie der Tier- und Pflanzenwelt. Damit wollen sie herausfinden, welche Faktoren einen besonders großen Einfluss auf ein entstehendes Ökosystem haben.
Junge Ökosysteme sind selten: Man findet sie zum Beispiel, wenn beim Abschmelzen von Gletschern das Eis den mitgeschleppten, unberührten Schutt freigibt – wie derzeit beim Dammagletscher in den Schweizer Alpen. In der Regel sind wir heute aber von uralten Ökosystemen umgeben, die sich über Jahrmillionen entwickelt haben und in denen die Beziehungen und Strukturen etabliert sind. Dazu gehören zum Beispiel Regenwälder, Wüsten oder Meere. Die Forschung weiß noch nicht viel darüber, wie sich solche Systeme entwickeln: Die physiko-chemischen und biologischen Prozesse, die dabei ablaufen, sind zwar weitgehend bekannt. Aber wie und wann sie sich ereignen und von was sie beeinflusst werden, ist bisher unklar. Um diesem Geheimnis der Natur auf die Schliche zu kommen, beteiligen sich Forscher der TU München an einem internationalen Verbundprojekt.
Dafür konstruierte die BTU Cottbus eine weltweit einzigartige Untersuchungsfläche: Sie liegt im ehemaligen Kohletagebaugebiet südlich von Cottbus und heißt nach einem früher dort fließenden Bach „Hühnerwasser“. Auf einer Fläche größer als sechs Fußballfelder wurde das regionale, in der Eiszeit entstandene Sediment wieder aufgeschüttet, planiert und umzäunt. In mehreren Metern Tiefe wurde eine abschirmende Tonschicht eingebaut, um versickerndes Regenwasser aufzufangen und zu einer künstlichen Quelle zu leiten, die in einen Teich fließt. Kein Dünger wurde zugesetzt, kein Samen gepflanzt, kein Organismus künstlich angesiedelt. Seit der Fertigstellung im Herbst 2005 entwickelt sich das größte künstlich geschaffene Wassereinzugsgebiet der Welt vollkommen selbständig. Es wird jedoch genau beobachtet: Wie in einem riesigen Freilandlabor forschen seit 2007 neben der BTU Cottbus auch die ETH Zürich, außeruniversitäre Partner sowie die TU München an dem Projekt.
TUM-Forscher untersuchen das Gebiet aus verschiedenen Blickwinkeln: Geobotaniker prüfen, ob das Samenreservoir des Bodens leer war und beobachten die Entwicklung der Vegetation, also welche Pflanzenarten nacheinander den Boden besiedeln und woher ihre Samen kommen. Waldwachstumskundler untersuchen die oberflächlichen Strukturen: Sie vermessen zum Beispiel regelmäßig die Veränderungen in der Bodenoberfläche und der Vegetation. Ziel ist ein mathematisches Modell, das die dynamische Wechselwirkung von Vegetations- und Oberflächenentwicklung simulieren kann. Und Bodenökologen sehen in die Erde: Sie analysieren immer wieder Menge und Art der im Boden lebenden Mikroorganismen, um zu verfolgen, wie sich in Hühnerwasser im Laufe der Jahre komplexe mikrobielle Gemeinschaften im Boden entwickeln und warum sich deren Zusammensetzung und Aktivität im Verlauf der Jahreszeiten ändern.
Ein Team um Prof. Ingrid Kögel-Knabner vom TUM-Lehrstuhl für Bodenkunde beschäftigt sich aus einer anderen Perspektive mit der Entwicklung des Bodens: Hier steht vor allem die Humusbildung im Mittelpunkt, also die Umwandlung von totem Pflanzenmaterial zu wertvoller, nährstoffreicher Erde. Die Forscher untersuchen regelmäßig Bodenproben auf ihre Zusammensetzung um herauszufinden, welche Prozesse bei der ersten Humusentwicklung ablaufen. Erste Zwischenergebnisse sind überraschend - die Entwicklung des Bodens und die Pflanzenfolge verlaufen in Hühnerwasser deutlich schneller als angenommen. „Schon nach fünf Jahren stehen hier die ersten Bäume, nämlich Robinien“ staunt Ingrid Kögel-Knabner vom TUM-Lehrstuhl für Bodenkunde. „Damit haben wir frühestens nach 20 Jahren gerechnet. Wahrscheinlich wird sich dann auch schneller als erwartet ein Wald bilden.“
Die wichtigste Hypothese des Projekts lautet, dass die Startphase eines Ökosystems entscheidend ist. Ingrid Kögel-Knabner: „Wir wissen zwar noch nicht, wie lange diese Initialphase dauert. Aber wir vermuten, dass sie die ganze weitere Entwicklung prägt und daher schon ganz am Anfang das spätere Ökosystem definiert“. Doch von welchen Faktoren wird die Initialphase maßgeblich beeinflusst? Schon jetzt hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass Regen zu diesen Faktoren gehört: Ein Wolkenbruch hatte ganz zu Beginn des Versuchs auf dem Gelände Rinnen gebildet, wo das Wasser abgeflossen war und Boden mitgeschwemmt hatte. Der nächste Regen ist wieder über diese Rinnen abgeflossen, sie wurden tiefer und breiter. So hat der erste Starkregen den weiteren Wasserfluss und damit auch die Standorte der Pflanzen bestimmt.
Welche anderen Faktoren eine Rolle bei der Entwicklung spielen, könnte sich schon in wenigen Jahren zeigen. Insgesamt soll das Projekt zwölf Jahre laufen - das klingt für unsere Verhältnisse lang, doch in der Entwicklung eines Ökosystems ist dieser Zeitraum praktisch nur ein Augenblick. Trotzdem erhoffen sich die Forscher grundlegende Erkenntnisse über die Anfangsstadien der Ökosystem-Entwicklung. Diese könnte man später nutzen, um in vom Menschen genutzte Gebiete einzugreifen und sie so gezielter zu renaturieren oder zu rekultivieren.