Forderung der Pädiatrischen Fachgesellschaften: Öffnung aller Betreuungseinrichtungen für Kindern – Mein Corona-Senf IX

Forderung der Pädiatrischen Fachgesellschaften: Öffnung aller Betreuungseinrichtungen für Kindern – Mein Corona-Senf IX

Die gestrige Stellungnahme der großen pädiatrischen Fachgesellschaften* ist äußerst lesenswert für alle Eltern, Fachleute und KollegInnen. Sie beleuchtet sowohl den aktuellen Wissensstand rund um die COVID-19-Infektion bei Kindern, das Ansteckungs- und Erkrankungsrisiko und vergisst auch nicht mögliche Komplikationen, wie das beobachtete „Kawasaki-like“-Syndrom. Wir lesen Vergleiche zu anderen europäischen Ländern, welche Infektionsrisiken dort beobachtet werden.

Die Gesellschaften fordern folgende Sofortmaßnahmen:

  • Öffnung aller Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche ohne Einschränkung durch Abstandsregeln oder Maskentragen
  • „Konstanz“ der Gruppe, d.h. keine Durchmischung der einzelnen Klassen (auf dem Schulhof? durch offene Gruppenkonzepte?)
  • Vermitteln von Grundregeln der Hygiene auch an Kinder und Ausstattung sauberer Toiletten mit Papierhandtüchern und Seifenspendern
  • Schutz des Betreuungspersonals (hier durch Abstand und Masken, evtl. „Pooltestung“)
  • Weiterführende Hygienemaßnahmen ab dem 10. Lebensjahr
  • Bei einzelnen Positivnachweisen keine sofortige Schließung der gesamten Einrichtung

Wichtigstes Hintergrundwissen, das diese Forderungen stützt:

  • „Kinder und Jugendliche mit SARS-CoV-2-Infektion zeigen mehrheitlich entweder keine oder nur milde Symptome
  • Todesfälle bei Kindern und Jugendlichen sind extrem selten (bis18.05.2020 im DGPI Register stationär behandelter Kinder ein COVID-assoziierter Todesfall).
  • Der Anteil von Kindern der Altersgruppe bis 10 Jahre an allen positiv getesteten Patienten liegt (…) bei 1 bis 2% und erreicht maximal 6% bis zum Alter von 20 Jahren.
  • Die Infektionsübertragung auf Kinder innerhalb von Familien erfolgt in der Regel durch infizierte Erwachsene (…), während Belege für eine Transmission auf mehrere Erwachsene durch ein infiziertes Kind bisher fehlen.“

Natürlich schränkt die Stellungnahme ein, dass nach Ende des shutdowns sich „eine sorgfältig durchgeführte und durch großzügige Testindikationen unterstützte prospektive Surveillance“ nicht erübrigt. Ein wenig nach den aktuellen „Hygiene-Demo-Argumenten“ klingt der Satz „Schweres COVID-19 ist nach derzeitigem Kenntnisstand in Deutschland bei Kindern keinesfalls häufiger als viele andere potentiell schwer verlaufende Infektionserkrankungen bei Kindern, die nicht zur Schließung von Schulen und Kindereinrichtungen führen“, und zielt damit auf den ermüdenden Vergleich der Grippesaison mit der aktuellen Lage. Gleiche Wasser auf deren Mühlen durch den Satz „dass vor und während der Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche die Folgen für diese Bevölkerungsgruppe nicht thematisiert und die Betroffenen und ihre Fürsprecher nicht gehört wurden, womit die elementaren Rechte der Kinder missachtet wurden.“

Wir wissen weiterhin nicht viel über den Verlauf der Coronainfektionen in Gruppen, wir stützen uns auf die wissenschaftlichen Daten aus anderen Ländern, aber die komplette Öffnung der Kitas und Schulen bleibt trotz alledem ein „in-vivo“-Versuch, möge alles gutgehen. Als Kinder- und Jugendarzt möchte ich gerne die Position teilen, dass ein Fortsetzen des Shutdowns in den Betreuungseinrichtungen zu familiären Konflikten führen wird, die Schere der Entwicklung bei Kindern auseinanderziehen und die psychischen Folgen nicht auszumalen sind. Dennoch vertraue ich als Kinderarzt der Resilienz der kindlichen Psyche, mit der Belastung fertig zu werden. Jeder Tag länger beansprucht diese aber mehr, sicher.

There is no glory in prevention. So sehr wir uns alle die Wiederherstellung der Normalität herbeisehnen: Keine Kinder- und JugendärztIn, keine ErzieherIn, keine LehrerIn, keine Eltern können mir erzählen, dass sie nicht auch zumindest ein klein wenig Zahnschmerzen haben, wenn es demnächst heißt, der shutdown der Kitas und Schulen sei beendet. Was ist mit den ErzieherInnnen und LehrerInnen, die einer Risikogruppe angehören? Dies wird im obigen Paper leider nur am Rande erwähnt, die fielen ja unter die verstärkten Hygienemaßnahmen.

Sorgen bereitet uns in den Praxen die Angst der ErzieherInnen um ein „Einschleppen“ einer COVID-Infektion nach der Öffnung. Bereits jetzt kommen Anfragen nach „sicherheitshalber mal testen“, „negativem Corona-Test vor Schulbesuch“ oder sofortigem Ausschluss vom Kontakt mit anderen, wenn nur einmal gehustet oder geniest wird (wie es das gerade jetzt in der Heuschnupfensaison oft vorkommt). Die Attestitis greift wieder um sich, weil jede einzelne Einrichtung selbst entscheiden muss, ob Kind XY der Besuch erlaubt werden darf oder nicht. Damit beginnt die Erklärugsnot: Ein negativer Abstrich ist kein Garant für Infektionsfreiheit, es gibt genug symptomfreie Träger usw. usf. Genau die obigen Argumente für die Öffnung der Kitas können uns wieder auf die Füße fallen, wenn die Kitas (verständlicherweise) überreagieren aus Angst einer Mini-Epidemie.


*namentlich der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte BVKJ, die Deutsche Akadamie für Kinder- und Jugendmedizin DAKJ, die Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie DGPI und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene DGKH.

(c) Bild bei publicdomainpictures.net/Piotr Siedlecki (CC0 Lizenz) – „Corona“ 😉


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