Fluten, Wellen, Ströme … „ und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr“


„…Seit Wochen sehe ich jeden Abend in der Tagesschau Polizisten, die, wenn sie Flüchtlinge in Empfang nehmen, Mundschutz und Gummihandschuhe tragen. Warum tun sie das? Man denkt unwillkürlich, dass die Fremden unter ansteckenden Krankheiten leiden, Pest und Cholera einschleppen. Man nähert sich ihnen wie Schmutz oder hochtoxischem Abfall. Was machen solche Fernsehbilder mit unserem Bewusstsein – und vor allem unserem Unbewussten? Und: Wie wirken Mundschutz und Gummihandschuhe auf die Ankömmlinge? Man berührt sie mit den spitzen Fingern des Ekels. Den Begleittext zu diesem Begrüßungsritual hörte ich im Fernsehen einen bayrischen Polizisten sprechen, der gerade eine syrische Flüchtlingsfamilie aus dem Auto eines ungarischen Schleusers herausgeholt hat: „Der Schleuser wird zur Bundespolizei verbracht, dort weiter bearbeitet und vernommen, dann auf Anordnung des Staatsanwalts einem Haftrichter vorgeführt und geht dann vermutlich in Untersuchungshaft. Die Flüchtlinge werden zur Bundespolizei transportiert, dort registriert und dann in eine Erstaufnahmeeinrichtung verbracht.“

Unmenschlichkeit kündigt sich in der Sprache an. Wer in einer verdinglichten Sprache („sind zu registrieren, sind zuzuführen, müssen verbracht werden“) über Menschen redet, behandelt sie irgendwann auch wie Dinge. Als Amos Oz im Jahr 2014 den ersten Siegfried Lenz-Preis erhielt, sagte er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung:

Apropos Sprache: Wenn von den Flüchtlingen geredet wird, ist von Flüchtlingsströmen und einer Asylantenschwemme die Rede, von Wellen, Ansturm, Flut. Diese Begriffe legen nahe, dass wir uns dagegen schützen, zur Wehr setzen, Dämme errichten müssen, sonst gehen wir unter, werden wir überschwemmt. Lloyd deMause und Klaus Theweleit haben gezeigt, dass die Verwendung von bestimmten Metaphern wenig über die solcherart Bezeichneten, aber viel über die Körpergeheimnisse, unbewussten Phantasien, Wünsche und Ängste derer aussagen, die sie verwenden. Die visuellen Botschaften der Leit-Medien repräsentieren laut deMause die kollektive nationale Traumarbeit. Sie wirken durch Titelbilder, Karikaturen, Schlagzeilen und filmische Darstellungen mit am Aufbau von „Gruppenphantasien“, die die Art und Weise prägen, wie Wirklichkeit wahrgenommen wird.

Wer oder was droht da überflutet, überschwemmt zu werden? Wogegen werden Grenzzäune, Dämme und Barrieren errichtet?

Klaus Theweleit hat aus den schriftlichen Hinterlassenschaften der Freikorpsmänner der frühen 1920er Jahre ein Psychogramm des Faschisten und des Faschismus herausgelesen. Fast alles, was Theweleit dort gefunden und in seinem zweibändigen Buch „Männerphantasien“ beschrieben hat, finden wir nun auch bei den zeitgenössischen Rassisten und Ausländerfeinden wieder. Aber eben nicht nur bei diesen, sondern auch in den Bildern und Metaphern, die in der medialen Berichterstattung über die Völkerwanderung der Armen verwendet werden.

Von den neuen Flüchtlingsfreunden wird zur Begründung auf den ökonomischen Nutzen verwiesen, den die Bundesrepublik aus der Zuwanderung ziehen kann. Die Flüchtlinge sind überwiegend jung und füllen die Alterspyramide im unteren Bereich auf. Die Wirtschaft klagt über einen „Fachkräftemangel“ und über angeblich Hunderttausende unbesetzter Arbeitsplätze. Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn möchte die Gunst der Stunde nutzen und den Mindestlohn revidieren. In einem Beitrag für die Wirtschaftswoche schreibt er: „Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen nur zu niedrigerem Lohn.“ Bestimmte Kapitalfraktionen sehen in den Flüchtlingen Nachschub für den „Arbeiterstrich“, auf dem man sich je nach konjunktureller Lage kurzfristig mit billigen Arbeitskräften eindecken kann. Die Flüchtlinge dienen als „Reservearmee“ und Druckmittel gegen Lohnforderungen.

In basal auf Kälte, Konkurrenz und Feindseligkeit gestimmten Gesellschaften, wie es die kapitalistischen Gesellschaften nach der im Namen des Neoliberalismus betriebenen Planierung des Sozialstaats sind, droht der unorganisierte Zustrom fremder Menschen trotz aller ausländerfreundlichen Rhetorik in einem Desaster, in Pogromen und rassistischer Gewalt zu enden. Die anarchische Form der kapitalfixierten Globalisierung des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs ruft nun eine ebenso anarchische Globalisierung auf Seiten der lebendigen Arbeitskraft hervor, die auch dahin strömt, wo sie ein besseres Leben vermutet. Warum soll Grenzüberschreitung und Vorteilnahme in der Fremde ein Privileg des Kapitals und des Geldes sein? Die Menschen, die nicht vor Krieg und Bürgerkrieg, Folter und Misshandlung fliehen, sondern weil sie sich woanders ein besseres Leben versprechen, verkörpern den Typus des modernen Arbeitsnomaden, der hochmobil und flexibel dahin geht, wo er bzw. seine Arbeitskraft gebraucht wird – oder wo er annimmt, dass sie gebraucht wird. Unser Wohlstand basiert eben gerade auf ihrem Elend, es sind zwei Seiten einer Medaille. Und wer will es ihnen verübeln, wenn sie auch einmal die andere Seite kennenlernen wollen.

Für die Entwicklung spezifisch menschlicher Qualitäten wie Mitgefühl, wechselseitige Verantwortung und gegenseitige Hilfe ist es nicht unwichtig, in welcher gesellschaftlichen Umgebung man lebt. Ein funktionierender Sozialstaat begünstigt ihre Herausbildung, der von der Leine gelassene Markt ruiniert sie eher und entfesselt Mentalitäten und Haltungen der Feindseligkeit und Konkurrenz. Oskar Negt schreibt in seinem Buch Philosophie des aufrechten Gangs:

„Zum ersten Mal in der Geschichte sind die wirtschaftlichen Mächte damit beschäftigt, in einer totalisierenden Warenproduktion Bindungen bewusst zu zerstören.“

Zur gegenwärtigen Gesellschaft gehört der Imperativ, flexibel zu sein, was letztlich nichts anderes heißt, als ohne Bindungen zu existieren, weil Bindungen Flexibilität und Mobilität behindern. Bindungslosigkeit droht zum allgemeinen Zustand zu werden. Diese Gesellschaft organisiert das Leben ihrer Mitglieder nur noch als sinn- und ziellosen individualistischen Konkurrenzkampf aller gegen alle. Jeder hat Angst, auf der Strecke zu bleiben, absolviert unbezahlte Praktika, arbeitet, sofern er einen Arbeitsplatz hat, bis tief in die Nacht, identifiziert sich mit seiner Firma, die ihn bei nächster Gelegenheit feuern wird. Nach Feierabend „gönnt man sich etwas“, kauft Klamotten, wirft irgendwelche Drogen ein, die die Stimmung aufhellen, surft stundenlang durchs Internet oder treibt Sport, um sich selbst zu optimieren und das Altern zu verhindern…“

Quelle und gesamter Text: http://www.nachdenkseiten.de/?p=27666


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