Flüchtlinge

Von Lyrikzeitung

Tanja L. (43) ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. (7 und 14). Sie ist gelernte Friseurin, Brautkosmetikerin und vom Neigungsberuf Malerin. Ihr Mann (40) ist selbstständiger Bauunternehmer. Im selbstgebauten eigenen Haus lebte bis vor einem Jahr noch die ganze Familie unweit der Eltern. Ihr gemeinsames Hobby ist die Musik, Gitarre und Gesang. Die Kinder gingen in eine nahegelegene sehr gute Schule. Tanja stellte ihre Bilder mehrfach im Land und sogar in Schweden aus. Bis jetzt könnte es sich um eine „ganz normale Familie bei uns“ handeln. Dann brach der politische Konflikt aus. Beide verloren ihre Arbeit, wie fast alle Bewohner der Stadt, in der sie lebten: im ukrainischen Donezk. Der nahegelegene Bahnhof, die Kirche und die Poliklinik wurden schwer beschädigt, unweit ihrer Siedlung brannten täglich ganze Wohnblöcke nach Angriffen aus. Die Familie packte das Nötigste ein und floh zunächst nach Kiew. Dort lebten sie ein halbes Jahr in einem Sammellager, in dem sie von uniformierten Soldaten, deren politische Zugehörigkeit sie nicht ausmachen konnten, mehr festgehalten als beschützt wurden. Von 270 Menschen dort waren 130 Kinder. Drei Mal wechselten die Kinder in den 6 Monaten die Schule. Man hoffte immer noch, zurückzukehren. Das Lager befand sich in einem grauenhaften Zustand. Die Soldaten liefen mit ungesicherten Gewehren herum, waren aggressiv und alkoholisiert. Als Tanjas Mann einige Soldaten bat, auf die Kinder Rücksicht zu nehmen, wurde er angegriffen, später mit dem Tod bedroht. Da entschloss sich die Familie zu fliehen, vor allem um der Kinder Willen.

Im Rahmen des Bundesprojektes

Nahsehn statt Fernsehn“

entstand das folgende Interview

A.J: Tanja, seit wann lebt Ihr in Deutschland?

T: Seit Dezember 2014.

A. J. Wo seid Ihr angekommen?

T: In Hamburg. Dort lebten wir in einer zentralen Unterkunft bis Februar 2015.

A.J: Wolltet Ihr in der Großstadt bleiben?

T: Wir hatten keine Wahl. Wo wir untergebracht werden sollten, entschieden die Behörden. Am Anfang füllten wir viele Formulare aus, anhand derer man wohl entscheiden wollte, wo wir untergebracht werden sollten. Es war wie ein Würfelspiel. Wir beteten jeden Tag, dass wir an einem Ort geschickt würden, wo die Menschen gut zu uns sind und wo sie unsere Lage verstehen.

A.J: Und? Seid Ihr an diesem Ort angekommen?

T: Oh ja! Gleich am ersten Tag, am 14. Februar in Ferdinandshof, trafen wir Menschen, die uns halfen, uns zurechtzufinden. Wir sind sehr dankbar für die Wohnung, die man uns zur Verfügung gestellt hat. Und noch am ersten Tag suchten wir die Kirche auf, da wir gläubig sind. Die Menschen dort sind sehr hilfsbereit und herzlich – wir fühlen uns schon wie in einer vertrauten Familie. Man schenkte uns eine Gitarre – und so lernten wir schon einige deutsche Lieder.

A. J: Ja, wunderbar, ich habe Euren ersten Gesangsvortrag schon bewundert! Und wie ergeht es Euren Kindern hier? Ich frage das auch deshalb, weil Eure Beiden bereits in unserer Osterferienwerkstatt fleißig mitgemacht haben.

T: Die Kleine ist in der Grundschule sehr beliebt. Sie wird von den Mitschülerinnen richtig verwöhnt. Die Kinder verstehen sich auch ohne Sprache. Mein Sohn lernt in der Schule in Torgelow ziemlich schnell Deutsch. Und er ist so gut in Mathematik, dass man ihn bald in eine deutsche Klasse versetzen wird. Mein Mann, der lernt auch nachts deutsch, wenn wir alle schon schlafen. Unser offizieller Deutschunterricht beginnt in diesen Tagen.

A. J: Ich frage mal rundheraus: Könntet Ihr Euch vorstellen hier zu bleiben?

T: Die Menschen sind gut zu uns, wir möchten uns hier anpassen und lernen, doch unser größter Wunsch ist es, in eine friedliche Heimat und in unser Haus und zu unseren Eltern, Verwandten und Freunden zurückzukehren, um unsere Existenz neu aufzubauen.

A. J: Wer könnte das nicht verstehen? Ich glaube, jeder, der ahnt und mitfühlt, was bei Euch derzeit passiert, bangt mit um die dort lebenden Menschen.

T: Die meisten Menschen in Donezk sind ohne Arbeit und ihr Alltag ist voller Angst. Sie sind traumatisiert und rechnen täglich mit dem Schlimmsten. Dabei waren ich und viele unserer Freunde in die 25 Jahre junge Ukraine mit allen Hoffnungen und Träumen richtig „verliebt“. Sie war wie ein Diamant, ja, sie war die Ahnung von einem Paradies, denn wir glaubten, wir hätten vielversprechende Möglichkeiten für ein gutes Leben – in einem friedlichen Europa.

A. J: Tanja, Deine Sprache ist manchmal romantisch wie Deine Bilder. Du hast in Donezk 2 Gedichtbändchen veröffentlicht. In russischer Sprache. Ja, Du und Deine Familie sprechen russisch.

T: Die Gedichte habe ich geschrieben, damit man meine Bilder besser versteht. Dass wir russisch sprechen, mag Euch hier merkwürdig vorkommen, aber genau das gehört zu unserer ukrainischen Identität. Und doch wollen wir nicht in einem „Neurussland“ leben. Als meine Großmutter starb, sagte sie auf Russisch zu mir: Bleibe Deiner Heimat Ukraine, d i e s e r Ukraine, treu. Verstehst Du, was ich meine, wenn ich Dir das erzähle?

A. J: Ich denke, ja. Du hast mir ja schon viel über die für uns oft verwirrende politische Situation zu erklären versucht.

T: Wenn man im Auto unterwegs ist, erreicht man nie sein Ziel, wenn man nur in den Rückspiegel schaut. Irgendwann gibt es einen Crash. Man sollte immer geradeaus schauen, dann kommt man dahin, wo man will.

A. J: Das sind philosophische Gedanken, über die sich die Menschen immer streiten. Es ist schwer, die Wahrheit zu erkennen. Aber den Menschen fast überall in der Ukraine geht es schlecht, wo immer sie politisch stehen, und das ist Fakt.

T: Aber nun ist für uns die Rettung hier. Nach dem Alptraum, den wir im Lager in Kiew erlebten. Wir sind Flüchtlinge geworden – niemals hätten wir uns das vorstellen können. Aber hier sind wir dankbar und brauchen nichts weiter. Was man hier für uns vorbereitet hat, das ist mehr, als wir erhofft haben.

A. J: Ich frage mich manchmal, was wohl eine unserer Familien täte, deren Zuhause durch Anschläge ringsherum ständig bedroht wird. Niemand ist vor einem solchen Schicksal wirklich geschützt, und niemand glaubt wirklich, dass so etwas passieren kann.

T: Ich habe sie gesehen, diese Wohnungen und Häuser, die völlig zerstört wurden. Wir haben sie fotografiert. Die Menschen sind verschwunden.

A. J: Du hast einige Deiner Bilder mitgebracht. Sie zeigen nichts von Deinen Erlebnissen. Es sind realistisch gemalte geheimnisvolle Stillleben und Portraits. Den Ferdinandshöfer Gutshof mit dem Remonte-Pferd als Dorfsymbol hast Du schon hier gemalt. Du warst sehr fleißig in den zwei Monaten Aufenthalt hier.

T: Mit dem Material, das ich als Geschenk erhielt, konnte ich malen, um meine Traurigkeit und Depression täglich neu zu überwinden. Malen ist für mich ein Trost. Auch der Bürgermeister, Herr Hamm, schenkte mir eine Leinwand, die bereits mit einem Stillleben bemalt ist.

Tanja wird im kommenden Sommer an 2 Ausstellungsorten in der Region ihre Kunstwerke zeigen. Dafür gibt es schon Zusagen.

Interview, Übersetzung aus dem Englischen, Foto:

Angelika Janz, 28. April 2015

(Tanja L.)