von Mira Sigel
In “Flucht und Migration – Von Grenzen, Ängsten und Zukunftschancen” haben die Herausgeber Elias Bierdel und Maximilian Lakitsch Kritik, Analysen und Alternativen zusammengetragen, um an dieser Situation etwas zu ändern. Das Buch, so schreiben sie selbst, soll keine Kampfschrift sein, sondern vielmehr Hintergrundinfos für eine fundierte Debatte geben, aus der am Ende eine “neue Willkommenskultur” entsteht.
Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse einzudämmen. Vielleicht betrachtet sie sie sogar als Abschreckung. Aber wenn für diese Menschen die Reise in den Kähnen den letzten Funken Hoffnung bedeutet, dann meine ich , dass ihr Tod für Europa eine Schande ist
schrieb Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa im Herbst 2013. Tatsächlich handelt es sich um eine “Abschreckungs- und Abschottungspolitik”, die die EU an ihren Südgrenzen im Mittelmeer betreibt, wie die Herausgeber in der Einführung schreiben. Das Vorgehen der 2004 ins Leben gerufenen Grenzschutzpolizei Frontex, Flüchtlingsboote ohne jede Rücksicht zurückzutreiben, wurde 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als völkerrechtswidrig erklärt. Dennoch wurde an diesem Handeln bis zum letzten Herbst festgehalten – die Folge waren Hunderte Tote. 45 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit, jedes Jahr kommen 7,5 Millionen hinzu – das ist der höchste Stand seit 20 Jahren. Besonders dramatisch: Mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder, immer mehr sind allein und auf sich gestellt unterwegs.
Teil I des Buches trägt die Überschrift “Flucht und Migration”. Peter Strutynski analysiert in “Flüchtlingsbewegungen als Resultat eines profitgesteuerten Raubbaus an natürlichen Ressourcen” die aktuellen Flüchtlingsströme als Folge von Kriegen und dem Kampf um natürliche Ressourcen – mit den entsprechenden verheerenden Folgen für die betroffene Bevölkerung, der oft nur die Flucht bleibt. Landgrabbing durch Banken, Investmentfonds und multinationale Konzerne hat in den letzten Jahren ein dramatisches Ausmaß angenommen. Statt für Nahrungsmittel nutzen sie das fruchtbare Land für den Anbau von Energiepflanzen, oder beuten das Land durch Bergbau aus. Diese Art der Landnahme ist staatlich gefördert. Dieter Alexander Behr plädiert in “We didn’t cross the border – the border crossed us” für eine andere Perspektive auf Migration, die eine Folge des Kapitalismus ist, der wiederum der Welt eine globale, rassistische Form der Arbeitsteilung aufing, die er in Übereinstimmung mit der Refugee-Bewegung als “globale Apartheid” bezeichnet. Migration kann daher auch als Widerstand gegen diese Verhältnisse betrachtet werden. Die Aufgabe der Privilegierten sei es, aktiv an der Überwindung dieser Verhältnisse mitzuarbeiten. Stephanie Demel beschreibt in “Flucht und Menschenrechte im Kontext des EU-Außenregimes” die Involvierung von Drittstaaten in der EU-Flüchtlingspolitik, so werden Staaten wie Libyien seit 2002 aktiv zur Mitarbeit an der Verhinderung von Migration verpflichtet.
Leonhard Call verdeutlicht in “EU Border Control – A Mission to save lives and promote Human Rights”, dass der Schutz der Menschenrechte im Umgang mit den Flüchtingsströmen oft nicht mehr als ein Feigenblatt ist. So verortet sich Frontex selbst innerhalb des Menschenrechtsdiskurses und erklärt entgegen der steigenden Zahlen von Toten, die Lebensrettung habe Vorrang vor der Flüchtlingsabwehr – und wird dabei von PR-Agenturen beraten.
Andreas Zumach sieht seit den 80er Jahren eine “Erosion der Solidarität mit Flüchtlingen sowie des Rechts auf Asyl in den europäischen Staaten”, die einen weiteren Höhepunkt im Umgang mit Edward Snowden erfuhr. Frontex und die Dublin-Abkommen haben Deutschland als Erstaufnahmeland für Flüchtlinge aus Afrika unerreichbar gemacht, zugleich verhärtet sich der Umgang mit Flüchtenden innerhalb Europas.
Das erste Intermedium des Buches beschreibt den Alltag eines Schiffskapitäns auf dem Mittelmeer. Eigentlich ist jeder Kapitän weltweit verpflichtet, in Seenot Geratene zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen – tatsächlich machen sich die Mittelmeerkapitäne inzwischen strafbar, wenn sie sich dementsprechend gegenüber Flüchtlingen verhalten, wie der Fall der Besatzung der Cap Anamour zeigte.
Teil II des Buches heißt “Einsperrung”. Judith Gleize beschreibt in “Italien und der ewige Notstand” die Überforderung Italiens, mit den Flüchtlingen umzugehen, für die es laut Dublin II allein verantwortlich ist. Die Folge sind menschenunwürdige Zustände in den Flüchtlingscamp, in denen es oft an der nötigsten Versorgung selbst für Babys mangelt. Ihre Sicht wird unterstützt von Lucia Gennari, die in “Refugee and Expulsion Camps in Italy” von den Fluchtversuchen aus diesen Flüchtllingslagern berichtet und von Manuel Lancha Munoz und Mikel Mazkiarán Lopez de Golkoetxea, die aus spanischen Flüchtlingscamps berichten.
Susanne Reitmair zeigt in “Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann”, wie in den vergangenen Jahren im öffentlichen Diskurs aus Migration ein Sicherheitsproblem gemacht wurde, den die Medien verstärken. Diese “Sündenbock-Strategie” führt dazu, dass es an Empathie und Verständnis für die Situation der Flüchtenden fehlt.
In einem zweiten Intermedium setzt sich Elias Bierdel in einem Gedicht mit der Lage auseinander. “Oh Entschuldigung, das Wort ‘Illegale’ hatten wir ja an anderer Stelle reserviert, das sind doch jene Sklaven, denen wir listig das Bürgerrecht verweigern, damit sie nicht noch Schadensersatz fordern, wenn sie auf den Baustellen für unsere Glaspaläste vom Gerüst fallen”, schreibt er.
Teil III stellt die Frage “Was tun?”. Alex Korun fordert in “Festung Europa versus Kontinent der Menschenrechte” eine Wende in der Flüchtlingspolitik durch eine Änderung des Dublin-Abkommens zugunsten eines gerechten Verteilungsschlüssels der Flüchtlinge auf ganz Europa und darüber hinaus die Möglichkeit der legalen Einreise zu schaffen, um Schlepperbanden das Geschäft mit den Menschenleben zu erschweren.
Gertraud Diendorfer und Petra Dorfstäter erzählen im nächsten Kapitel vom Konzept der Wanderausstellung “Migration on Tour”.
Michael Genner zeigt sich hoffnungsvoll, dass das traurige Jahr 2013 den Grundstein für eine erfolgreiche Masssenbewegung zum Wandel im Umgang mit Flüchtlingen gelegt hat. Bettina Gruber betont in “Widerwillig unterwegs” die Aufgabe der Kommunen in Österreich als Ort, an dem Integration stattfindet.
Im letzten Kapitel geht Fanny Dethloff auf die Rolle der Kirchenasyle in der Flüchtlingshilfe ein.
Es ist ein erschütterndes Buch mit vielen Informationen, unter denen die Schicksale hinter den Informationen nicht verloren gehen. Die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer ist nicht vorbei, nur weil die Medien weniger darüber berichten, sie ereignet sich jeden Tag auf das Neue und es erfordert die Solidarität der Menschen in Europa, um sie zu beenden. Wie menschenverachtend die Ereignisse und die Politik ist, zeigt zum Beispiel der Umstand, dass Fischer bestimmte Gebiete mit ihren Fangnetzen nicht mehr aufsuchen, aus Angst, Leichen oder Leichenteile könnten sich in ihren Netzen verfangen.
Elias Bierdel, Maximilian Lakitsch (Hg.), Flucht und Migration – Von Grenzen, Ängsten und Zukunftschancen, Reihe: Dialog, Band 65, 2014, broschiert, 200 Seiten, ISBN: 978-3-643-50579-8, 9.80 Euro[Erstveröffentlichung: Die Freiheitsliebe]