Junge Welt, 02.07.2013
Freihandelsabkommen USA-EU soll Widersprüche der kapitalistischen Dauerkrise mildern. Es wird auch Bollwerk gegen zunehmende Konkurrenz der Schwellenländer
Im Moment herrscht große Aufregung in EU-Europa. Wegen der ungenierten Spionage des US-Geheimdienstes NSA bei »befreundeten« Staaten und Institutionen, stellen europäische Politiker derzeit verbal eines der größten politischen Projekte zur Disposition – die Einrichtung einer Freihandelszone USA-EU. Denn auch die Vorbereitungen zur Eröffnung der Verhandlungen ab Anfang Juli waren offenbar von der National Security Agency ausspioniert worden. Auch wenn es sich bei den Äußerungen vermutlich um Theaterdonner handelt, stehen die beginnenden Gespräche damit unter zusätzlichem Druck. Denn angestrebt wird immerhin die Bildung der weltweit größten Freihandelszone.
In den kommenden Tagen sollte über konkrete Bestimmungen der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) gefeilscht werden, auf deren Zustandekommen sich EU-Kommission und US-Präsident auf dem letzten G-8-Gipfel in Nordirland verständigt hatten. Neben dem Abbau von Zöllen und sonstigen Handelshemmnissen geht es vor allem um die Angleichung unterschiedlicher technischer Standards, Sicherheitsbestimmungen oder Wettbewerbsvorschriften, die den transatlantischen Warenaustausch behindern.
Politprominenz und Medien sparten bei der Ankündigung des TTIP nicht an Superlativen: »Wir schaffen neue Arbeitsplätze und neues Wachstum auf beiden Seiten des Atlantiks«, erklärte US-Präsident Barack Obama. Britanniens Premier David Cameron sprach von einer Chance, die sich »nur einmal in einer Generation« ergebe. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte das Projekt einen »Riesenschritt nach vorne«. Es gelte, die Verhandlungen möglichst schnell, schon »in wenigen Jahren« abzuschließen, so die Kanzlerin. Womöglich geht es schon deshalb schneller, weil die Amis die Planung der EU-Seite längst kennen?
Mit rund 800 Millionen Lohnabhängigen und Konsumenten würde die TTIP ein Markt, auf den rund die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung und ein Drittel der weltweiten Handelsströme entfielen. Etliche Auftragsstudien, die die Vorteile des Projektes anpreisen, sollen die Öffentlichkeit auf die vermeintlichen Segnungen des transatlantischen Freihandels einstimmen. Die EU-Kommission behauptet, jeder Haushalt werde durch das TTIP jährlich im Schnitt um 545 Euro entlastet. Zudem könnten 400000 neue Arbeitsplätze und ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent jährlich generiert werden.
Zumindest innerhalb der EU wird der »Riesenschritt« über den Atlantik auch als Reaktion auf die anhaltende Wirtschaftskrise verstanden. Die TTIP sei »das billigste Ankurbelungsprogramm, das man sich vorstellen kann«, jubelte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der sich davon einen zusätzlichen Anstieg der Wirtschaftsleistung um 120 Milliarden Euro pro Jahr versprach. Das Wall Street Journal (WSJ) brachte das Kalkül Brüssels, mit einer Art Flucht nach vorn den eskalierenden Krisenwidersprüchen zu entgehen, auf den Punkt: »Für die Führung der EU ist es ein Versuch zu demonstrieren, daß das europäische Projekt noch mehr zu bieten hat als Rezession und grimmige Austerität.«
Neben dem Versuch, die Systemkrise des Kapitalismus auf beiden Seiten des Atlantiks durch einen weiteren Liberalisierungsschub zumindest zu verzögern, stellt die TTIP auch eine kaum verhohlene Kriegserklärung an die aufstrebenden Schwellenländer dar. Beiden Seiten eröffne das Freihandelsabkommen die Möglichkeit, die »globale Führung« des »alten Westens« in einer multipolaren Welt erneut geltend zu machen, kommentierte das WSJ. Die Neue Zürcher Zeitung wurde noch deutlicher: Die TTIP diene nicht der »Liberalisierung des Handels«, sie stelle vielmehr in erster Linie einen Schutzmechanismus vor »allzu starker Konkurrenz« dar. Die angestrebte Freihandelszone sei ein protektionistischer Versuch, »ein Handelsregime unter Ausschluß Chinas und anderer Schwellenländer zu schaffen.«
Auch die Deutsche Welle rechnete in einem Kommentar nach: »Wo es viele Gewinner gibt, muß es auch ein paar Verlierer geben«, da die Volumina des Welthandels durch das TTIP keinen schnellen Anstieg, sondern eine Umleitung erfahren würden. Während die großen Handelsblöcke den Warenaustausch untereinander verstärken dürften, würden die Importe aus »Lateinamerika, Asien und Afrika« in diese »Super-Freihandelszonen« abnehmen. Deswegen hätten Kritiker das Vorhaben auch als »Handels-NATO« bezeichnet, die darauf abziele, »die Welt zu spalten.« Die chinesische Zeitung Global Times kommentierte, daß das TTIP China »in die Ecke« drängen würden, weil die Volksrepublik und andere Schwellenländer es sich nicht leisten könnten, aus diesem ausgeschlossen zu werden und letztendlich »mit an Bord« kämen – zu Bedingungen des »Alten Westens«, versteht sich.
Vor den transatlantischen Verhandlungsparteien türmen sich indes noch schier unübersehbare Widerstände und Streitpunkte auf, die bis zum Abschluß des Freihandelsvertrages (laut US-Wirtschaftsmagazin Forbes wäre 2015/2016 realistisch) ausgeräumt werden müßten. Neben dem Agrarbereich, dem Verbraucherschutz und der unterschiedlichen Regulierung der Finanzbranche stellen insbesondere die französischen Vorbehalte gegenüber einer Liberalisierung der Kulturindustrie ein ernstes Hindernis dar. Das wurde bisher in alter europäischer Tradition einfach ausgeklammert. Innerhalb der EU gelten vor allem Deutschland und Großbritannien als Befürworter der TTIP, während Frankreich sich quer stellt, da es »von der Freihandelszone nur in einem geringen Umfang profitieren würde«, wie es die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) formulierte. Die Unternehmerverbände des deutschen Maschinenbaus (VDMA) und der Automobilindustrie (VDA) setzten hingegen laut der FAZ »große Hoffnungen« auf die TTIP.