Nach einem demütigenden Arbeitstag scheint einer dieser Filme wie "Fluch der Karibik" selbstredend (und erfahrungsgemäß!) das effektivste Mittel zu sein, der tristen, oft unwirklichen Wirklichkeit zu entfliehen, dem Schuften, Abrackern, den Kopfschmerzen, der Anstrengung, hin zur Entspannung. "Fluch der Karibik" wirkt als Allzweckwaffe gegen Stress unheimlich beruhigend, weil dieser Film so unheimlich sympathisch von einem Dunst der Lockerheit eingehüllt wird. Sicher, das ist einmal mehr der waffengeprägte Bruckheimer-Eventeskapismus wie eh und je, aber er hat das Herz am rechten Fleck, gesteht Freude an der Materie und lässt überhaupt keinem überschwänglichen Stumpfsinn Platz.
"Fluch der Karibik", nicht zuletzt war das der entscheidende elektrische Stoß, um einen halbtoten Patienten in Agonie wiederzubeleben und diese Wiederbelebung aus der Schockstarre zur lebendigen Konfrontation von Klischee und Anti-Klischee ins Zentrum der Dramaturgie zu rücken. Ein totgeglaubtes Sujet wird benutzt und vorgeführt, in etwa so. Und es machte sich bezahlt: Merchandising aus Taiwan, hysterische Zahnspangenfans, klingelnde Kassen. Auch fernab der damaligen, heutzutage verebbten Euphorie infolge einer Neusichtung macht "Fluch der Karibik" schlicht und ergreifend riesigen Spaß, trotz Abschiedskuss, trotz Happy End, rammt mit seinem Bug gar all das, was unter dem primitivsten Begriff aller primitiven Begrifflichkeiten filmischer Rezeption gemeingefährlicher Cinemenschen hausiert: perfekte Popcornunterhaltung. Oder auch Fast-Food-Berieselung. Hinsetzen, Maul halten, die wenigen Kalorien genießen. Groteskerweise ein seltenes Privileg der Branche, speziell letzteres, heute zunehmender und erbarmungsloser.
Obwohl es anfangs fad schmeckt, wenn Gore Verbinski und seine vier Drehbuchautoren erst einmal gesunkene Schätze von A bis Z aus dem Wasser ziehen: Flüche, Gold, Rum, Untote, Schmutz, Dekadenz, schnelle Schiffe und sagenumwobene Schiffe, böse Piraten und gute Engländer, gewollte Liebe und ungewollte Liebe, einsame Inseln, stürmische Nächte, traumhafte Landschaften, Säbelduelle und Säbelrasseln, die raue See, der Mondschein, das fehlgeschlagene Urteil eines zu Erhängenden, die Absurdität der Situation, wenn der Delinquent über die Planke seinen letzten Gang genießt. Von Anfang an macht Verbinski klar, dass er ein Märchen zu erzählen hat, ein ebenso romantisch wie vorhersehbar unterfüttertes Märchen von jener Sorte, dessen narrative Segmente klar ersichtlich jedem halbwegs phantasievollen Zuschauer sein sollten. Bruckheimer halt, da ist er wieder, unverkennbar, unverkennbar glatt.
Doch erst im Nachhinein gewinnt der Film aus seinen Klischees etwas augenzwinkernd-Entlarvendes. Captain Jack Sparrow (Johnny Depp) wird in einer martialischen Pose mit aufopferungsvollem Sound in Nahaufnahme vorgestellt, wir sollen unmissverständlich wissen: Das ist der Held. Die Kamera weicht zurück und dieser unbesiegbare Superpirat tukkelt auf einer so gar nicht erwarteten Spelunke von Schiff. Autsch, reingelegt! An einer anderen Stelle erweisen sich die unter vorgehaltener Hand getuschelten Geschichten um ihn und der Black Pearl, diesem Mysterium an Fortbewegungsmittel, lediglich als dick aufgetragene Räuberpistolen, deren Aberglaube zunehmend von der Realität eingeholt werden. Es ist dieses Wechselspiel von Nutzung und Umdichtung, von Interpretation und Neuinterpretation zahlreicher Genremechanismen, die im ersten Abenteuer der Karibik begeistern.
Auch technisch überzeugt "Fluch der Karibik" angesichts seines nostalgischen Ausstattungskorsetts, das jeden Winkel der See authentisch nachschnürt, mit ansehnlichen Spezialeffekten, wuchtiger Action, atemraubenden Kameratotalen für den letzten epischen Schliff (Dariusz Wolski). Und mit Musik. Und Schauspiel. Ohnehin wird der Film zusammengehalten von seiner Ironie, Lakonie und der cleveren Pointe, von seiner Gerissenheit, die sich in zwei Männern manifestiert, nämlich dem einen mit dem elektronischen Taktstock (Klaus Badelt), dem anderen mit der geschminkten Frau im torkelnden Pirat. Dagegen gehen Keira Knightley und Orlando Bloom sang- und klanglos unter, ihre banalen Sätze, die ihr das Drehbuch auferlegt, schlagen auf dem Coolnessbarometer eher die spießig-langweilige Richtung ein, wohingegen Geoffrey Rush unterdessen jene Vorlagen gekonnt umsetzt, die ihm Depp vorlegt. Eine diabolische Gegenströmung vor allem in Anbetracht der interessanten Rollenverteilung, dass Rush scheinbar mehr Archetyp als Depp innerhalb des Genres verkörpert. Ein Duell zwischen Alt und Neu, Retro und Modern sozusagen.
Diametral demgegenüber das Script. Es ist für Filme dieses Formats auffallend verschachtelt geschrieben und schildert Figuren ausführlich (von einer stimmigen Exposition ganz zu schweigen), aber es ist zu späterer Stunde allzu sehr daran fixiert, komplexe psychologische Zusammenhänge und Beziehungen herzustellen, in dem es dies und das umkreist, dies und das zu erklären versucht und dies und das vertwistet, was eigentlich gar nicht fundamental wichtig ist, sodass eine Straffung sicher nicht gänzlich kontraproduktiv wäre. Die redundante Ausschlachtung der Geschichte zur breiten Saga sollte noch ausufernder vonstattengehen, wenigstens ein positiver Nebeneffekt des ersten Abschnitts des Franchise. Bis dahin allerdings verbleibt "Fluch der Karibik" sowohl als spritzige, bis zum Horizont streifende Kapernfahrt durch die Genregeschichte, als auch als liebevolles Disney-Paralleluniversum in den Köpfen der Hobby-Piraten und solchen, die es gern werden wollen. Klar soweit?!
7.5 | 10