"Fluch der Karibik 2" / "Pirates of the Caribbean: Dead Man's Chest" [USA 2006]


Fluch oder Segen oder Fluch und Segen zugleich, dass "Fluch der Karibik 2" der Charakteristik eines traditionellen Bindeglieds zwischen Exposition und Finale einer (bis dahin) geplanten Filmtrilogie zuwider läuft? Denn das Sequel erweckt eklatant den allgegenwärtigen Eindruck, kein Mittelteil im herkömmlichen Sinne vorzugaukeln – mit der Aufgabe gesponnene Handlungsstränge zu vertiefen –, vielmehr verbreitert Verbinski im wahrsten Sinne des Wortes den "Fluch der Karibik"-Radius, indem er eine komplett neue Geschichte aufzieht, die zum Vorgänger, ungeachtet einiger charmanter Reminiszenzen, keine nennenswerten Gemeinsamkeiten des im ersten Teil etablierten Erzählhandwerks verdichtet. Verbinski ignoriert de facto den ersten Streich, Verbinski erzählt neu, Verbinski erzählt in zwei Akten, die wiederum in zwei Filme gebunden werden, manchmal holprig, zeitweilig wirr, bisweilen selbstverliebt, was insgeheim zur Frage führt, ob eine Fortsetzung überhaupt je geplant war, oder ob sie eher aus wirtschaftlicher Bereicherung fließender Geldströme florierender Kinokassen kreischender Teens notdürftig geboren wurde. Insofern ähnelt "Fluch der Karibik 2" mehr fragmentarischem Jump-and-Run als der noch im Rahmen ihrer Möglichkeiten überschaubar kompakten Piratenklamotte des ersten Teils.
Verbinski verklebt Episoden mit Episödchen, Höhepunkte mit actionreichen Zwischenstopps, Zweierbeziehungen mit Dreiecksbeziehungen, ohne eine exakte Kursrichtung am Steuer einzuschlagen, außer auf den dritten Teil zuzusteuern. So sehr man in Versuchung gerät, den Schwenk des in die Breiteinszenierens gerade angesichts seiner wiederkäuenden Konkurrenz ambitioniert zu titulieren, so sehr muss sich Verbinski gleichzeitig mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, dass er bei aller Liebe zu Figur, Mann und Maus und ihren Streitigkeiten, wer welchen Vorteil aus welcher unüberlegten Aktion woraus zieht, jene unverkrampfte Lockerheit verrät, die "Fluch der Karibik" seinen Spaß bescherte. Doch wie bei fast allen unkomplizierten Jump-and-Run-Abenteuerlichkeiten übertrumpft die Neugier die Seelenlosigkeit derart hoch, dass wir wissen wollen, wie die verschiedenen Levels aussehen und bei Gefallen über ihre Substanzlosigkeit hinwegschauen. "Fluch der Karibik 2" bietet trotz verschwurbelten Handlungswinkeln innerlich nicht viel, aber umso abwechslungsreicheres Augenfutter, das ihn noch zu tragen imstande ist, wenigstens halbwegs, den Spaß, den eskapistischen Spaß eines lupenreinen Blockbusters.  
Das mit Regentropfen in Zeitlupe geradezu betörend intime Opening, Captain Jack Sparrows Befreiung aus einem Sarg unter obligatorisch donnernder Zimmer-Mucke, die schmackhafte Kannibaleninsel, das rollende Mühlenrad, der brachiale Krakenangriff, der gewitzte Cliffhanger mit einem saftigen Apfel; obgleich in ihrer Lächerlichkeit jederzeit frei verkäuflich, sind es diese  Momente barocker Schönheit mit Übersicht, die echtes "Fluch der Karibik"-Feeling dann doch noch verströmen und den narrativen Leerlauf aufgrund ihrem eingelösten Versprechen, dass es nie sonderlich langweilig werden würde, bis zu einem gewissen Grad zu kaschieren wissen. ILMs Trickschmiede liefert imposantere Qualitätsdetailarbeit, Dariusz Wolskis Kamera beobachtet noch majestätischer das Geschehen und sowohl Keira Knightley als auch Orlando Bloom können sich entschieden mehr entfalten (allein das Vater-Sohn-Verhältnis wird stärker denn je gewichtet). Immer gelingt dies natürlich nicht, es ist schwer, die Verstörtheit im bleiernen Gesicht Blooms und die Hysterie Knightleys zu vergessen, die in einer Szene zur mindestens genauso verstörenden Overacting-Attacke deluxe ausholt.
Für frischen Wind sorgen derweil die Kollegen Davy Jones (schleimig-tentakelig: Bill Nighy) und Stiefelriemen Bill (melancholisch-verträumt: Stellan Skarsgård). Hinzu kommt ein amüsantes Wiedersehen des Ex-Verlobten Commodore Norrington (abgewirtschaftet: Jack Davenport), ebenso wie den beiden vertrottelt-intellektuellen Schmalspurseeräubern (Lee Arenberg, Mackenzie Crook). Johnny Depp muss sich hingegen begnügen, zweite Geige zu spielen, weil seine vom Drehbuch verantwortete Entwicklung (ohne die geht es heute nicht mehr) vom toughen Pirat zur paranoid-ängstlichen Comedynummer samt ihres hochnotpeinlichen Slapsticks statt auf leisen Sohlen schleichender Ironie mehr Fremdscham evoziert, als es diesem Film gut getan hätte. Depp allein kann nicht stemmen, seine Figur ist ausformuliert und verlangt keine zusätzliche Ölung, zumindest keine überstilisierte, sie wirkt jetzt langweilig und berechenbar, nicht mehr so frisch, so unangetastet, je öfter der (Franchise-)Kuh die Milch entnommen wird. Sparrow benötigt tatsächlich die Hilfe seiner Mitstreiter, um den zwischen düster, surreal und graziös changierenden Film über die Ziellinie des Mittelmäßigen zu retten. Das tun sie. Wenn auch nicht mehr so unverbraucht. Aber sie tun es.
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