Flexibilisieren wider die Angst

Von Ralfwestphal @ralfw

Jedes Jahr im Juni habe ich Angst. Dann droht nämlich der Besuch des Heizungsablesers. Kalorimeta kündigt sich durch Aushang im Hausflur an – und ich verfalle in Furcht und Zittern.

Nein, ich zittere nicht, weil ich eine Heizkostennachzahlung fürchte. Und ich habe auch keine Angst davor, dass Manipulationen an den Heizkostenverteilern auffliegen würden. Alles ist in Ordnung damit.
Grund für meine Angst ist mein Schreibtisch:

Der steht nämlich vor der Heizung. Und an der Heizung ist der abzulesende Heizkostenverteiler angebracht. Der muss dem Ableser zugänglich gemacht werden. Der will ja nicht unter meinen Schreibtisch krabbeln. Wenn er das in jeder Wohnung machen würde… dann wäre ja sein Rücken bald hinüber. Es als kleines Sportprogramm zu verstehen, sozusagen kostenloses Arbeitsyoga… nein, dem Gedanken war er in den bisherigen Jahren nicht aufgeschlossen gegenüber. Er hat schaut auch immer so grimmig, der Ableser. Gut gelaunt habe ich ihn noch nie gesehen. Kein Wunder, er arbeitet im Akkord. Immer ist er in Hetze. Manchmal ist er mir ein Rätsel, wie er das immer noch aushält. Alle Jahre ist es derselbe Techniker; Anfang 60 ist er bestimmt. Und immer Schweiß auf der Stirn.

Und so droht jedes Jahr, dass ich für den guten Mann meinen Schreibtisch abrücken muss von der Heizung. Davor habe ich Angst. Denn der Schreibtisch ist – wie soll ich sagen? – nicht sehr mobil. Die Beine fallen leicht ab, es ist einiger Kleinkram drauf, drumherum laufen Kabel, die es zu entwirren gälte, dann das Sofa abziehen, den Drucker wegräumen… Es wäre ein großer Aufwand für die 15 Sekunden Ablesezeit. Diesen Aufwand möchte ich nicht treiben. Also habe ich Angst davor, dass mich der Ableser zwingt…

Bisher jedoch – oh, Wunder! – ist dieser Kelch an mir vorüber gegangen. Irgendwie habe ich es in den vergangenen Jahren geschafft, diesen grimmigen Gehetzten zu bewegen, unter meinen Tisch zu krabbeln. Hinterher stand mir dann auch der Schweiß auf der Stirn. Puh… Das war knapp. Wieder ein Jahr Ruhe mit dem Schreibtisch. Ich musste seine Fragilität nicht anrühren.
Jedes Jahr hat es geklappt. Vielleicht hätte es auch dieses Jahr geklappt. Doch diesmal waren die Umstände anders. Ohne ins Detail gehen zu wollen sah ich mich in diesem Jahr gezwungen, den Schreibtisch abzurücken. Schnell noch bevor ich aus dem Haus musste. Ein Stellvertreter für den Einlass des Ablesers war organisiert.

Und da ist es dann passiert. Der Schreibtisch brach zusammen. Alle Vorsicht hatte nichts genützt. Meine Angst über die Jahre war absolut begründet gewesen. Was so lange still gestanden hatte, war in 3 Sekunden am Boden. So – ein – Mist! Mist, Mist, Mist! Argghhh…

Um nun aber doch etwas Positives aus dem Malheur zu ziehen, habe ich darüber reflektiert. Dieser Blogartikel ist das Ergebnis. Denn es gibt etwas (für mich) zu lernen.

Neulich hatte ich ja schon über die Angst geschrieben, in der Entwickler oft leben. Sie haben Angst vor neuen Anforderungen oder dem Releasetermin. Unüberschaubar, was dadurch an Aufwand entstehen könnte… Der Code ist fragil, die Schritte zum Herstellen einer auslieferbaren Version undurchsichtig. “Ohje, hoffentlich will keiner etwas von uns…” So herrscht Furcht und Zittern in den Entwicklungsteams, immer wieder, mal mehr, mal weniger.
Und nun habe ich am eigenen Leib gemerkt, wie das ist. Und wie es dazu kommt. Ich habe bei der Einrichtung meiner Wohnung schlicht die Anforderung nicht bedacht, dass der Heizkostenverteiler einmal im Jahr zugänglich gemacht werden muss. Und da das ein lästiger Anlass ist, will ich dafür keinen großen Aufwand treiben müssen. Also sollte es möglichst einfach sein, den Zugang zu gewähren.

De facto habe ich das Mobiliar nun aber so verteilt, dass das nicht möglich ist. Ich habe es mir selbst schwer gemacht. Also muss ich Angst leiden. Jedes Jahr wieder. Immer bin ich überrascht, wenn die Ankündigung im Hausflur hängt. “Jo, is dän scho Ablestag?” Jahr für Jahr widersetze ich mich der klar erkennbaren und so plötzlich wie Weihnachten auftretenden Realität der Ablesung Jahr für Jahr habe ich Angst vor dem strengen Ableser; werde ich ihn wieder rumkriegen, unter den Tisch zu krabbeln?

Und alles nur, weil ich nichts daran tun will, die Schreibtischsituation zu flexibilisieren. Oder die Einrichtung insgesamt so zu ändern, dass der Zugang kein Problem ist. Herumlavieren und Angst haben scheint einfacher.

Aber das ist doch auch Mist. Die Konsequenz habe ich heute kassiert. Gesparten Flexibilisierungsaufwand habe ich jetzt teuer gespart. Chaos beseitigen, Schreibtisch aufbauen – was nur mit Hilfe möglich war – und alles wieder herrichten haben einigen Aufwand gemacht. Und das natürlich zu einem Zeitpunkt, da es mir gar nicht in den Kram gepasst hat.
Das will ich mir nun eine Lehre sein lassen. Angst ist ein Indikator. Da heißt es, nicht zurückzucken, sondern die Ursache aus der Welt schaffen. Zwei Möglichkeiten sehe ich:

  1. Begrüßung mit einem kleinen Geschenk für seine Mühe. Seine Situation anerkennen, um Verständnis bitten für die eigene und honorieren, dass er sich auf eine Sonderbehandlung einlässt. Damit würde ich mir die Angstfreiheit platt erkaufen. Ich habe wenig Zweifel, dass das funktionieren würde. Wieviel wäre ich bereit auszugeben?
  2. Ich räume ein für alle Mal mit dem Schreibtisch auf. Ich mache ihn mobiler, flexibler. Dazu könnte ich ihn fester zusammenfügen, damit er leichter zu bewegen ist. Und ich könnte drumherum und obendrauf aufräumen. Zeug, das herumfliegt, in Kästen packen, die ich schnell wegräumen kann. Die Kabel am Boden entwirren und fixieren, damit sie nicht umeinanderfliegen.
Option 2 wäre wohl die konsequente, saubere Lösung – die auch im Verlauf der nächsten 12 Monate zu erreichen wäre. Der Break-even wäre in 1-2 Jahren bestimmt erreicht. Eventuelle Investitionen sind fix – Geschenke hingegen würden solange fließen müssen, wie ich dort wohnen bleibe. Dito die Angst. Sie wäre weiterhin mein alljährlicher Gast, wenn ich nichts tue.
Also, auf geht´s! Flexibilisieren wider die Angst!