Finger vom Kadaver schneiden

Von Robertodelapuente @adsinistram
Zuweilen erlangt man den Eindruck, wir warteten auf der Schwelle zu neuen Mittelalterlichkeiten. Da wollen Sextremistinnen die Unschuldvermutung als ein potenzielles Unwort anschwarzern, pilgern aufgeschreckte Eltern durch Ortschaften, nicht selten mit der Forderung nach Todesstrafe oder mindestens Haft bis zum bitteren Ende - oder man fordert repressive Mittel, zur Erfüllung "guter Absichten". Da passt es ins Bild, dass auch die Leichensynode eine Neuauflage erhält.

Exhumiert vor Gericht

Papst Stephan VI. ließ 897 die sterblichen Überreste seines Vorgängers Formosus exhumieren und vor Gericht stellen. Das Urteil war drakonisch. Man nahm dem Angeklagten sein päpstliches Ornat, schnitt ihm Finger ab und verscharrte ihn wie einen Hundskadaver, nur um ihn kurz danach nochmals auszubuddeln und in den Tiber zu werfen. Was Formosus getan hat, dass man ihn posthum derart strafte, blättere man bitte in einer penibel geführten Chronik nach. So viel sei aber gesagt: gedopt hat er nicht!

Es gibt historische Episoden, die wirken mit etwas Abstand betrachtet einfach nur lachhaft - die Leichensynode ist so eine. Auch wenn sie erklärbar ist mit dem Weltbild der mittelalterlichen Glaubenswelt, in der Diesseits und Jenseits weniger fromm voneinander geschieden waren, wie in späteren Epochen. Trotzdem stellen wir uns Stephan VI. als eine Witzfigur vor. Ausgeschlossen ist nicht, dass der Internationale Sportgerichtshof (CAS) irgendwann gleichermaßen verspottet wird. Verspottet wie die Synodalen seinerzeit - falls der CAS nicht bereits schon heute ausgelacht wird.

Gerichtsprozess für eine Leiche

Jan Ullrich ist rundlich geworden. Rundlicher als sonst, als die Experten und Fachleute feststellten, dass er nur deshalb immer Zweiter bei der Tour de France werde, weil er um ein oder zwei Kilo zu dick sei. Jedenfalls, der Ullrich jener Tage, er saß nicht vor seinem Richter. Es war jener drahtige, nur für Experten zu fette Radsportler, über den zu Gericht gesessen wurde. Aber der war nicht anwesend. Diesen Ullrich gibt es nicht mehr - seit 2007, eigentlich schon seit Mitte 2006, nicht mehr. Der Privatmann Ullrich erschien an seiner statt. Der Radsportler Ullrich aber, er verstarb vor gut sechs Jahren. Für seinen Prozess exhumierte man ihn - der Kadaver des pedalierenden Heroen wurde verurteilt. Nicht drakonisch, dafür genauso sinnfrei.

Man schnitt keine Finger ab, riss ihm nicht mal die Kleider vom Leib. Das Mittelalter gestaltet sich in unseren Tagen aufgeklärter als dazumal. Schabernack mit Verurteilten erspart man sich, die Menschheit ist erwachsen geworden. Man verhängte zwei Jahre Sperre - verbietet damit einem Mann im Radsport aktiv zu bleiben, der schon seit 2006 nicht mehr dort aktiv ist. Als ob man einem Mann mit chronischer Glatzköpfigkeit Bürste und Kamm schenkt - als ob man einem Toten die Finger absäbelt.

Glauben, nicht wissen

Doping raube dem Radsport die Glaubwürdigkeit - das ist allgemeinverbindliche Predigt. Man hat sich daran zu halten. Joachim Fuchsberger hat vor Jahren in einer Abendsendung einen Nebensatz fallen lassen. Man solle Doping legalisieren, das würde Problematiken beseitigen, die man sich nur selbst schafft, meinte er - man kanzelte ihn kurz und knapp, aber durchaus rüde, ab. Als ob jeder Postbote ein Etappenrennen gewinnen würde, wenn er sein Blut mit Sauerstoff anreicherte.

Glaubwürdigkeit nimmt weniger das Doping dem Sport. Es sind jene Gerichtsbarkeiten, die verspätet und auf vage Befunde gestützt, Sperren aussprechen. So geschehen kürzlich im Fall Contador - eine Sperre, die sich auf Indizien stützt. Die Gewinnerlisten großer Radrennen werden willkürlich verändert, Sieger gestrichen, rehabilitiert, gestrichen, rehabilitiert - jemand wie Andy Schleck, der jetzt Tour-Sieger 2010 ist, weil Contador es nicht mehr sein darf, soll der sich freuen? Pereiro Sio "gewann" die Tour de France 2006 - wie der Mann aussieht, wissen dennoch die wenigsten, denn er gewann Monate nach dem Ereignis, erst als man Landis den Sieg aberkannte. Früher sagte man nach der letzten Etappe in Paris: Hinault hat gewonnen! oder Indurain hat gewonnen! Heute heißt es: Ich glaube, Contador hat gewonnen! oder Ich glaube, Evans ist Tour-Sieger! Jeder glaubt, keiner weiß...

Was für eine glaubwürdige Art, die Entscheidungen von Radrennen, gerichtlich neu zu ordnen. Die besten Fahrer auszuschließen. Die Institutionen, die die Unglaubwürdigkeit des Radsports erzeugen, sind weniger die Rennställe als die Sportgerichte und deren Dopingjäger. Die Zuschauer und die Medien wollen Geschichten und Spektakel - dies möglichst täglich, jeden Tag Attacken am Steilanstieg. Geschieht das selten, spricht man von Langeweile, von einer unspektakulären Tour. Was liegt da näher, als nachzuhelfen, um den Zuschauern und Medien das zu geben, was sie sehen wollen?