financial-times kommentar: qualifizierter ausstieg wäre zeichen der zukunftsfähigkeit

Im Streit um den Bahnhofsbau Stuttgart 21 bemüht die Politik nun die Staatsräson. Daraus spricht die pure Argumentationsnot: Verkehrspolitisch ist das Projekt nicht mehr zu rechtfertigen.

Kommentar von Michael Holzhey

financial-times kommentar: qualifizierter ausstieg wäre zeichen der zukunftsfähigkeit

Wir schreiben ein Jahr zwischen 2025 und 2030. Stuttgart 21 – die Umwandlung des Kopfbahnhofs in eine tiefergelegte Durchgangsstation – ist soeben mühevoll fertiggestellt. Man stelle sich vor, die Entscheider müssten eine Woche lang Bahn statt Dienstwagen fahren. Was könnten sie sehen? Die Fahrt in die slowakische Hauptstadt Bratislava ist 26 Minuten schneller. Das macht attraktive acht Stunden und 29 Minuten statt bislang acht Stunden, 55 Minuten – sofern das dreimalige Umsteigen klappt. Der erhoffte Stundentakt nach Paris bleibt ein Traum.

Der Tiefbahnhof erweist sich als Nadelöhr, weil die unterstellten Soll-Haltezeiten von einer Minute im Regionalverkehr und 2,2 Minuten bei Fernzügen irreal sind. Am teuren Fernbahnhof des Flughafens fährt der ICE vorbei, so wie heute bereits an Köln/Bonn oder Düsseldorf. Die versprochene Erhöhung der Kaufkraft für die Region bleibt aus – Schieneninvestitionen entfalten nur in Limburg und Montabaur Wachstum, landesweit sind dies Nullsummenspiele. Mehr Regionalzüge fahren auch nicht, das Land kann sie wegen der Schuldenbremse nicht finanzieren.

Nach der Eskalation im Schlossgarten vergangene Woche dämmert es vielen, dass Stuttgart 21 nicht durchzusetzen ist. Der geringe Nutzen des Vorhabens für den Verkehr ist nicht zu vermitteln. Daher wird nun die Staatsräson bemüht. So sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich, ohne Festhalten an Stuttgart 21 könne sie nicht mehr nach Europa fahren, der griechische Kollege könnte ja sagen: „Wenn Deutschland vor Protesten einknickt, kann ich den Stabilitätspakt zu Hause nicht verteidigen.“
m Streit um den Bahnhofsbau Stuttgart 21 bemüht die Politik nun die Staatsräson. Daraus spricht die pure Argumentationsnot: Verkehrspolitisch ist das Projekt nicht mehr zu rechtfertigen.

Wer die sagenumwobene europäische Magistrale Paris-Stuttgart-Bratislava verbal bis Athen verlängert, muss sich nicht wundern, dass die Bürger sich von der politischen Führung abwenden. Es muss um das Projekt schlecht bestellt sein, wenn den Befürwortern keine besseren Argumente einfallen. Zum Thema Verlässlichkeit: Deutschland stört sich nicht daran, 14 ungleich wichtigere internationale Abkommen zum Schienenausbau zu ignorieren.

Stuttgart 21 sichere die Logistikfähigkeit des Landes, heißt es noch beschwörender. Wenn das Projekt kippe, könne man Großprojekte in Deutschland vergessen, private Investoren wendeten sich ab. Die Fakten: Größe von Investitionen ist kein Wert an sich, 40 Maßnahmen je 100 Mio. Euro wären um ein Vielfaches nützlicher. Der Staat muss bei Stuttgart 21 für fast alle Risiken aufkommen, weil die Grundstückserlöse die Erwartungen nicht erfüllen. Und dem Güterverkehr nutzt die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm nichts, weil sie zu steil ist.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte, Großprojekte hätten es nun mal an sich, dass die Kosten – offiziell derzeit bei 7 Mrd. Euro – im Laufe der Realisierung stiegen. Würden jedoch private Unternehmen so lax mit Geld umgehen, flögen sie vom Markt. Dass das Gesamtprojekt 10 Mrd. Euro kosten wird, lässt sich schon heute fundiert herleiten. Man muss es nur wissen wollen. Unschöne Nörgeleien? Nur wenn die Interessen des Steuerzahlers und des Fahrgasts eine Rolle spielten. Wie warb Ex-Bahn-Chef Dürr 1999 für Stuttgart 21? „Als der Deutsche Dom gebaut wurde, meinen Sie, dass die vorher genau gewusst haben, was es kostet? Heute haben wir den Dom, und alle Leute finden das toll.“

Ansprüche an das Gemeinwesen
Die Proteste kämen zu spät, heißt es. Alle Beschlüsse seien demokratisch legitimiert und rechtsstaatlich zustande gekommen. Das stimmt – wenn man Demokratie und Rechtsstaat auf die Leitsätze reduziert: „Erlaubt ist, was nicht justiziabel ist“ und „Mehrheit ist Mehrheit“.
Der Kollateralschaden dieser Denkweise ist, dass die repräsentative Demokratie immer weniger die Bevölkerung repräsentiert.

Die meisten Bürger haben höhere Ansprüche an ihr Gemeinwesen: wirksame Kontrolle der Exekutive durch selbstbewusste Parlamente, Transparenz, größtmögliches Informationsniveau der Entscheider. Hieran gemessen ist Stuttgart 21 ein bestürzendes Lehrstück, wie ein Beschluss nach allen Regeln der Kunst herbeigetrickst und gegen jeden Einwand immunisiert wird. Drei Beispiele:
Ministerpräsident Mappus definiert die „politische Sollbruchstelle“ bei 4,5 Mrd. Euro Baukosten. Die Bahn rechnet und kommt zwar auf 4,9 Mrd. Euro. Wochen später werden aber wundersame Einsparpotenziale von 900 Mio. Euro entdeckt – die gab es in der Historie der Baukosten noch nie.
Ein Gutachten im Auftrag der Landesregierung spricht 2008 ein vernichtendes Urteil über die Leistungsfähigkeit des geplanten Bahnknotens aus. „Aufgrund der Brisanz der vorliegenden Resultate ist absolutes Stillschweigen erforderlich“, lautet der Schlusssatz. Als die Expertise publik wird, beruft sich die Landesregierung auf „veraltete Planungsstände und isolierte Einzelaspekte“. Zwei Tage später wird die Beseitigung einer der kritisierten Schwachstellen verkündet.
Im Planfeststellungsverfahren urteilen in entscheidenden Fragen ausgerechnet jene Gutachter, die selbst Stuttgart 21 geplant haben.
Nach normalen demokratischen Spielregeln war Stuttgart 21 mehrfach tot. Doch im Gegensatz zu Frankfurt 21 oder München 21 wirken im Ländle reanimierende Kräfte.
Jetzt sollen – nach 16 Jahren – alle Fakten auf den (runden) Tisch, man wolle versachlichen, heißt es. Das wäre zu begrüßen, ist aber Illusion. Es hat Gründe, Wirtschaftlichkeitsrechnungen und Risikoberichte wegzuschließen. Wären diese lesbar, wäre der Ausstieg Formsache. Bis 2013 lohnt er sich, noch kostet er maximal 500 Mio. Euro, das ist überschaubar im Vergleich zu 10 Mrd. Euro Baukosten. Wachsen kann der Schienenverkehr nur, wenn knappes Geld in verkehrspolitisch dringliche Projekte investiert wird. Davon liegen viele in Baden-Württemberg, außerhalb Stuttgarts.
Ein qualifizierter Abbruch wäre ein Zeichen der Zukunftsfähigkeit.
Der Kommentar gibt die Privatmeinung des Autors wieder.

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