Filmkritik zu ‘Shame’ mit Michael Fassbender

Von Denis Sasse @filmtogo

Über seinen Film ‚Hunger‘ sagte Regisseur Steve McQueen, dass es um einen Mann ohne Freiheit ging, der seinen Körper verwendete um diese Freiheit zu erlangen. In ihrem zweiten gemeinsamen Film erzählen McQueen und sein Hauptdarsteller Michael Fassbender nun von einem Mann, der alle Freiheiten des Lebens genießt, sich aber vor allem durch seine sexuelle Freiheit ein eigenes Gefängnis erschafft. ‚Shame‘ wurde auf den 68. Internationalen Filmfestspielen von Venedig stark umjubelt, erhielt einen Kritikerpreis und die Auszeichnung für Fassbender als besten Schauspieler. Seither streift der Film über die Filmfestivals in der ganzen Welt und zieht die Zuschauer in seinen Bann. Wobei vor allem Michael Fassbenders Darstellung des sexbesessenen Brandon Sullivan für Furore sorgte.

Man mag es vergleichen mit Christian Bales Figur des Patrick Bateman in dem 2000er Film ‚American Psycho‘. Auch Fassbenders Sullivan ist ein oberflächlich betrachtet smarter New Yorker in seinen dreißiger Jahren, hinter dessen attraktiver Fassade es aber erheblich brodelt. Statt wie Bateman mordend durch die Stadt zu ziehen, sucht er seine Ablenkung von der Alltagsroutine in seinem exzessiven Sexleben voll schneller Affären und One-Night-Stands. Sein gut kontrollierter Rhythmus droht allerdings zusammenzustürzen, als seine exzentrische Schwester Sissy (Carey Mulligan) vor seiner Tür steht um bei ihm einzuziehen.

Einsam: Michael Fassbender als Brandon Sullivan

Allerdings ist das für den sexbesessenen Geschäftsmann nicht nur hinderlich, sondern auch höchst unangenehm. Was auch immer dort in vergangenen Tagen im Familienleben der beiden Geschwister vorgefallen ist, Regisseur Steve McQueen erzählt es nur unterschwellig und leise, lässt die Figuren nur dezent aufeinander prallen. Die meiste Zeit gehen sie sich jedoch aus dem Weg, zumindest Fassbenders Brandon Sullivan hat Schwierigkeiten mit der Nähe seiner Schwester, die ihn durch ihre bloße Anwesenheit in die Enge treibt. Wenn sie von ihm unter der Dusche erwischt wird, schaut er beschämt beiseite, obwohl er ganz andere Bilder aus seinen privaten Fantasien gewohnt ist. Wenn sie zu ihm ins Bett kriecht um sich zu wärmen, hat er einen Tobsuchtsanfall und brüllt seine Schwester aus dem Zimmer hinaus. Das sind wenig gestreute laute Momente von Michael Fassbender, der im Film als eher ruhiger, in sich gekehrter Mann seinen Alltag durchlebt. Dieses Leben wird immer wieder durch seine notorischen Sexabenteuer gebrochen. Als unverbesserlicher Charmeur reißt er die Frauen mit seinen bloßen Blicken auf. Erst mit zunehmender Filmhandlung lernen wir seine tiefsten Abgründe kennen, so dass er junge Frauen auch schon mal in einer öffentlichen Bar befingert um ihnen einen Vorgeschmack auf mögliche Ereignisse zu geben oder aber seine Sex-Lust in einer Schwulenspelunke befriedigt. Die Mittel und Wege sind ihm irgendwann gleichgültig.

Aber das ist die Schauspielkunst eines Michael Fassbenders die hier gelobt wird. Darüber hinaus hat es der Zuschauer schwer in die Filmhandlung hinein zu kommen. Steve McQueen verfolgt weder einen roten Faden, noch weist er uns den Weg zum Ziel. Wir bekommen nur diese Figur mit ihrem Problem vorgesetzt und müssen selbst eine relevante Geschichte hinein interpretieren. Ist es wirklich seine Besessenheit nach Sex die im Vordergrund stehen soll oder nur die Folgeerscheinung einer anscheinend durchwachsenen Kindheit, die der Hauptfigur einen seelischen Knacks mitgegeben hat? Ist es die Beziehung zu seiner Schwester, die hier erzählt wird oder ist es ein Film über einen Mann, der keine Liebe empfinden kann? Es werden mehr Fragen aufgeworfen als behandelt, wir sehen nur einen kleinen Ausschnitt eines großen Ganzen. Natürlich muss ein Film nicht immer alles erzählen und erklären, aber trotz interessanter und gut inszenierter Sexthematik, wirkt ‚Shame‘ doch eher wie ein großes, noch nicht zusammengesetztes Puzzle.

Carey Mulligan

Hierzu gehört auch die konstruierte Darstellung von Schwester Sissy, die als hyperaktives Pendant von Brandon Sullivan in dessen Leben tritt, ein wenig Chaos stiftet, einen traurigen Familienaspekt der Handlung zufügt und auf dramatische Art und Weise das Finale des Films an sich reißt. Man darf vermuten, dass sie die Frau als Frau ist, wo Brandon sonst nur Objekte sieht. Er verliert all seinen Charme und seinen Glanz, sobald Gefühle im Spiel sind, versteckt sich dann hinter einer Mauer des Schweigens, der Wut und der Hilflosigkeit. Alle Fäden laufen letztendlich bei ihm zusammen. Dafür nimmt Mulligans Figur allerdings am Ende eine zu große Rolle ein, die darin gipfelt, dass sie sich in einer durch ästhetisierten Szene das Leben zu nehmen versucht. Bei all der schönen Bildhaftigkeit verliert sich McQueen hier in stereotypen Bildern, die er am Ende mit dem weinenden Mann im Regen sogar noch auf die Spitze treibt.

Dann sind da aber wieder die Untertöne die zum Nachdenken anregen und ‚Shame‘ so interessant machen. Die Schamlosigkeit der Schwester sich ihrem Bruder gegenüber nackt zu zeigen steht im Kontrast mit dessen Scham, die er dabei empfindet sie anzusehen, aber auch sie in sein abgeschottetes Leben zu lassen, in sein Apartment, in dem es in jeder Ecke Pornofilme und Magazine zu finden gibt. Da wo sie herkommen, kommen keine guten Menschen her, heißt es im Film. Die Vergangenheit lastet schwer auf diesen beiden Figuren – und es lastet auf dem Zuschauer, dass er nicht erfährt worum es sich dabei handelt. Der Film versucht mit Indizien zu arbeiten, mit Halbinformationen ruht er sich auf dem unbezweifelbar hervorragendem Schauspiel von Michael Fassbender aus, in den McQueen seit seiner erfolgreichen Zusammenarbeit für ‚Hunger‘ die größten Hoffnungen setzt.

‚Shame‘ ist ein guter Film, der den Zuschauer dennoch unzufrieden aus dem Kinosaal kommen lässt, ohne dass dieser eine klare Erklärung dafür parat haben wird. Dieses Etwas muss irgendwo zwischen dem Fehlen einer fesselnden Geschichte und einem nicht auffindbaren Spannungsbogen verloren gegangen sein. Dafür gibt es unscheinbare Bilder von New York, wie sie nur selten in Filmen zur Geltung kommen und eine der stärksten Performances der vergangenen Zeit. Man sieht Fassbender beim Sexspiel die Scham und sein Leid ins Gesicht geschrieben, wobei er zeitgleich die Erfüllung seiner Lust und Sucht genießt. Da verkommt das Ziehen einer Line Kokain zur harmlosen Randerscheinung – und als solch eine Randerscheinung kann auch ‚Shame‘ angesehen werden.

Denis Sasse


‘Shame‘

Originaltitel: Shame
Altersfreigabe: ab 16 Jahren
Produktionsland, Jahr: GB, 2011
Länge: ca. 100 Minuten
Regie: Steve McQueen
Darsteller: Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie, Hannah Ware, Elizabeth Masucci, Loren Omer