Filmkritik: «Tatort - HAL» (am 28. August 2016 in der ARD)

Kameras und Sensoren erfassen uns, Daten werden zu Profilen zusammengefügt: Big Data ist nicht zuletzt eine gigantische Möglichkeit der Überwachung. Um die Logik der Datenauswertung bis hin zur Frage, wer eigentlich die Macht über unsere Daten und unser Leben hat, geht es Autor und Regisseur Niki Stein im neuen Tatort aus Stuttgart. Der Tatort - HAL der SWR spielt in einer nahen Zukunft, die vielleicht schneller Gegenwart ist, als wir erwarten. Morgen, am 28. August 2016, ist er ab 20:15 Uhr in der ARD zu sehen.

Filmkritik: «Tatort - HAL» (am 28. August 2016 in der ARD)

Im 19. Fall der Stuttgarter Kommissare Thorsten Lannert und Sebastian Bootz geht es um den Mord an Elena Stemmle, Schauspielschülerin mit Nebenjobs bei einem Online-Escortservice und bei der Softwarefirma Bluesky. Dort war sie Probandin für das gleichnamige Social Analysis Programm, dem ganzen Stolz von Geschäftsführerin Mea Welsch und Entwickler David Bogmann. Bluesky ist ein selbstlernendes Programm, das Big Data nutzt, um zukünftiges Gewaltverhalten zu prognostizieren. Während damit Verbrechen verhindert werden sollen, vermuten Lannert und Bootz bei David Bogmann vergangene Gewalttätigkeit. Denn auch die Polizei kann Daten korrelieren und die weisen im Fall Stemmle auf David Bogmann als wahrscheinlichem Täter hin. Als ein Video im Netz auftaucht, das von Bogmanns IP-Adresse stammt und Elena Stemmles mutmaßlichen Tod zeigt, zieht sich die Schlinge um den Entwickler zu. Dabei hat der gerade ganz andere Sorgen, denn er fürchtet, dass Bluesky dabei ist, außer Kontrolle zu geraten. (Pressetext)

Tatort goes Science-Fiction. Ein Stück zumindest, denn das, was Autor und Regisseur Niki Stein in seinem Tatort - HAL thematisiert, ist heute schon für uns von großer Bedeutung: Sind wir eigentlich noch die Herren über die von uns geschaffenen Maschinen? Oder sind wir es, die von Computernetzwerken und Algorithmen überwacht, kontrolliert und sogar vielleicht gesteuert werden? Schon Stanley Kubrick beschäftigte sich in 2001 - Odyssee im Weltraum mit dem Antagonismus zwischen Mensch und Maschine - und Stein erweist diesem Klassiker des SF-Films auf gleich mehrere Art und Weise Reverenz: Natürlich durch den Titel, denn der Computer der Discovery in 2001 war der HAL 9000. Mit ihm hatte sich seinerzeit Dr. David "Dave" Bowman auseinanderzusetzen; nun ist der Programmierer David Bogmann. Und wenn in der Anfangssequenz kein kleines Mädchen ein Stück Holz nach einem Bündel wirft, das im Neckar treibt, die Kamera der Flugbahn des Knüppels folgt, ehe auf eine Tontaube umgeschnitten wird, die ein Geschoss trifft, dann ist dies nun eines von mehreren Bildzitaten, die Stein als Verbeugung vor Kubrick und seinem bekanntesten Film in diesen Tatort eingebaut hat.

Seine Beschäftigung mit Big Data und künstlicher Intelligenz kleidet Stein in einen Kriminalfall, der Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) zunächst Routine parat hält: Die Pathologie kann die Todesursache einwandfrei feststellen, das Opfer wird zügig identifiziert, ihr Umfeld befragt und untersucht. Und mit David Bogmann (Ken Duken) hat man auch schon einen Verdächtigen, denn über seine IP-Adresse wurde ein sehr eindeutiges, belastendes Video hochgeladen. Läuft also. Oder auch nicht, denn eine Reihe von Wahrheiten, dass müssen die Ermittler feststellen, verbergen sich in einem Raum, auf den sie nur sehr begrenzt Zugriff haben: dem Internet. Der Versuch, Einblick in die Kundenkartei eines Online-Dating-Services zu nehmen, scheitert daran, dass dessen Server in den USA steht. Wichtige Datensätze verschwinden im digitalen Nirvana, doch dafür tauchen unvermittelt neue Videos auf, die alle auf Bogmann als Täter hinweisen. Und Bogmann hat auch einen konkreten Verdacht, wer es darauf abgesehen hat, ihn zu belasten. Doch als er diesen gegenüber Lannert und Bootz äußert, glauben die ihm kein Wort. Denn für die beiden bodenständigen Polizisten klingt das, was sie da zu hören bekommen, wie ... Science-Fiction.

Filmkritik: «Tatort - HAL» (am 28. August 2016 in der ARD)Stein macht das Programm Bluesky zu einem "Charakter" in dieser Geschichte, indem er ihm Gesicht sowie Stimme gibt und das Geschehen teilweise aus dessen Perspektive erzählt. Bluesky bedient sich Möglichkeiten, die uns heutzutage nur allzu vertraut sind: Überwachungskameras, Gesichtserkennung, Bewegungsprofile von Smartphones, Browserverläufe und Zugriff auf Internetkonten ermöglichen dem Programm das Sammeln von ungeheuren Datenmengen. Durch gewaltige Serverkapazitäten kann Bluesky sie alle auswerten und zusammenführen. Das Programm kann lernen, um sich ständig weiterzuentwickeln - seine Entwickler wollen es so. Doch was passiert, wenn aus Sammeln, Speichern und Lernen irgendwann eigenständiges Handeln wird?

Den Fehler, Bluesky als einen digitalen Amokläufer darzustellen oder seine Entwickler als Mad Scientists des Computerzeitalters zu porträtieren, vermeidet Tatort - HAL konsequent. Stattdessen wird der Zuschauer mit der ernüchternden Tatsache konfrontiert, dass das Programm lediglich genau das tut, was man von ihm verlangt. Und seine Schöpfer wollen einfach nur ein perfektes Produkt anbieten, für das sie bereits Interessenten haben. Dazu gehört auch das LKA Baden-Württemberg, dessen Vertreter sich begeistert von der Möglichkeit zeigen, durch die Fähigkeiten von Bluesky Straftaten quasi voraussagen zu können (Philip K. Dicks Minority Report lässt grüßen). Anders als durch weitreichende Überwachung ließen sich die Bedrohungen durch Terrorismus, Radikalisierung der Gesellschaft und die sich immer weiter öffnende Wohlstandschere zwischen Arm und Reich nicht mehr bewältigen. Ein Argument, das einem sehr vertraut vorkommt, wird es in der laufenden politischen Debatte um die innere Sicherheit doch immer wieder vorgebracht. Niki Stein ist hier absolut am Puls der Zeit; das Motiv für den Mord an Elena Stemmle ist hingegen klassischer Kriminatur. Ein passender Abschluss für einen Tatort, dem es gelingt, eine Balance zu finden zwischen den Konventionen des Genres und der Auseinandersetzung mit einem Thema wie Big Data und künstliche Intelligenz.

Niki Stein legt mit Tatort - HAL einen spannenden wie intelligenten Beitrag zur Tatort-Reihe vor, der zwar eine Antwort darauf gibt, wer Elena Stemmle auf dem Gewissen hat, die Frage, ob wir uns inzwischen der Technologie in einem Maße ausliefern, dass sie uns über den Kopf wächst, bewusst offen lässt. Dass sie Fluch und Segen gleichzeitig ist, wird im Verlauf der Geschichte deutlich; ob allerdings die positiven oder die negativen Seiten überwiegen, muss der Zuschauer für sich entscheiden. Dies macht HAL zu einem interessanten Ausgangspunkt für eine Diskussion über ein Thema, das uns wohl nie mehr verlassen wird.

Tatort - HAL läuft am Sonntag, dem 28. August 2016, ab 20:15 Uhr in der ARD.


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