Filmkritik: Casablanca - Der gefährlichste Film aller Zeiten!

Erstellt am 22. Mai 2013 von Lyck

   Der Film Casablanca (USA, 1942) zählt zu den meistgesehenen und höchstprämierten der Filmgeschichte. Meist wird er als Melodram oder Liebesfilm bezeichnet, beides ist jedoch falsch. Tatsächlich ist Casablanca das genaue Gegenteil – er ist ein Hassfilm. Gedreht wurde er in Zusammenarbeit mit dem United States Office of War Information (OWI). Während des Zweiten Weltkriegs war es Aufgabe dieser US-Behörde, Kriegsinformationen und Propaganda zu verbreiten (Quelle: Hollywood Goes To War, The Free Press, 1987). Zu diesem Zweck unterhielt das OWI ein Bureau of Motion Pictures (geleitet von dem Verleger Nelson Poynter), das Filme bewertete, an Konferenzen zur Vorproduktion teilnahm und die Dreharbeiten überwachte. Die Beamten übten Druck auf die Filmemacher aus, woraufhin diese Drehbücher und Filme änderten, unliebsame Projekte wurden gänzlich fallengelassen. Das politische Ziel bestand darin, Menschen aufzuhetzen und für den Krieg zu begeistern. Junge Männer sollten sich zu den Waffen melden, junge Frauen dem Sanitätsdienst beitreten, und jeder finanzkräftige Bürger sollte Kriegsanleihen zeichnen.  
   Kurz ein paar Worte zum Inhalt: Der Amerikaner Rick Blaine (gespielt von Humphrey Bogart) betreibt in Casablanca einen Nachtclub. Während des Krieges erscheint dort überraschend die Schwedin Ilsa Lund (Ingrid Bergman), mit der Rick einst eine heftige Liebesaffäre verband. Ilsa erklärt jedoch, sie sei mit dem tschechischen Widerstandskämpfer Victor Laszlo (Paul Henreid) verheiratet, beide würden vom deutschen NS-Regime verfolgt. Ricks und Ilsas Gefühle füreinander flammen wieder auf. Weil Rick im Besitz zweier Transit-Visa ist, könnten sie das Land per Flugzeug verlassen. Der französische Polizei-Chef Capitaine Renault (Claude Rains) ist auf der Suche nach den Visa, um den Mord an zwei deutschen Kurieren aufzuklären. Kurz vor dem Abflug übergibt Rick die Visa an Victor und Ilsa. Major Strasser (Conrad Veidt), ein deutscher Offizier, versucht den Start des Flugzeugs zu verhindern. Rick tötet Strasser, Victor und Ilsa entkommen in die Freiheit. Capitaine Renault wird den Mord an Strasser jedoch nicht aufklären, sondern die "üblichen Verdächtigen" verhaften lassen. Rick und Renault werden Freunde.  
   Reine Propaganda
   Die Geschichte klingt nach einem gewöhnlichen Filmstoff. Was soll daran schlimm sein? Am besten versteht man es, wenn man sich eine zentrale Szene in Erinnerung ruft. In der Mitte des Films singt Major Strasser mit seinen Soldaten in Ricks Bar ein Lied. Victor Laszlo unterbricht den Vortrag, indem er die Kapelle anweist, die Marseillaise zu spielen. Mehr und mehr Gäste stimmen in den Gesang ein, bis nur noch die französische Nationalhymne zu hören ist. Scheinbar ein klarer Fall: Unschuldige Opfer erringen einen heroischen Sieg gegen die alleinigen Verursacher eines Krieges. Falsch. Denn eine wichtige Frage wird in der Bewertung des Films fast immer ausgelassen: Welches Lied singen Major Strasser und seine Soldaten? Die meisten Menschen würden wahrscheinlich antworten: Irgendein Nazi-Lied. Wieder falsch. Die korrekte Antwort lautet: Die Wacht am Rhein. Dieses Lied entstand nicht erst in den 1930er Jahren, sondern fast 100 Jahre zuvor.
   Anlass war die Rheinkrise von 1840 (hier der Wikipedia-Eintrag). Damals versuchten französische Politiker wieder einmal, ihren Herrschaftsbereich nach Osten auszudehnen. Der Regierung unter Ministerpräsident Adolphe Thiers war es zuvor nicht gelungen, ihre Interessen im Orient durchzusetzen (siehe Orientkrise). Zum Ausgleich forderten sie, den Rhein als natürliche Ostgrenze Frankreichs festzulegen (Deutsche Geschichte 1800 – 1866, C. H. Beck, 1998). Damit wären dem deutschen Volk alle linksrheinischen Gebiete verloren gegangen, einschließlich der Städte Köln, Bonn, Koblenz, Mainz, Worms und Speyer. Diese Forderung löste in den deutschen Kleinstaaten große Besorgnis aus, denn man erinnerte sich noch sehr genau an die vielen französischen Kriege, die auf deutschem Boden stattgefunden hatten. Als Reaktion darauf wurden zahlreiche patriotische Gedichte und Lieder geschrieben – eines davon war Die Wacht am Rhein. Somit trugen die Franzosen - wenn auch ungewollt - erheblich zur Gründung des deutschen Nationalstaates bei.  
     Täter und Opfer - stimmt es wirklich?
   Ebenso selten wird der Ort der Handlung näher betrachtet. Der Film spielt in Casablanca, der Hauptstadt von Französisch-Marokko. Der Staat Marokko existierte damals offiziell nicht, sein Territorium war aufgeteilt zwischen Spanien und Frankreich. Die Marokkaner kämpften jedoch um ihre Unabhängigkeit, seit 1893 kam es drei großen Aufständen, die von den Besatzern blutig niedergeschlagen wurden. Während des Rifkrieges von 1921 bis 1926 setzten die Spanier sogar Giftgas ein, sowohl gegen feindliche Kämpfer als auch gegen die Zivilbevölkerung (Franzosen, Briten und Deutsche im Rifkrieg, Oldenbourg Verlag, 2006). Diese Verbrechen ereigneten sich gerade einmal zwanzig Jahre vor der Handlung des Films, werden aber mit keinem Wort erwähnt. Marokkaner sind lediglich Statisten in Casablanca.
   Victor Laszlo ist Tschechoslowake. Ist wenigstens er ein unschuldiges Opfer? Nein, auch nicht. Unstrittig ist, dass die Wehrmacht 1938 das Sudetenland besetzte und 1939 in die Rest-Tschechei einfiel, die Bevölkerung litt anschließend unter einem Terrorregime. Doch auch das ist wieder einmal nicht die ganze Geschichte. Nach 1918 verstießen die Tschechoslowaken vehement gegen die Minderheitenrechte, trotz internationaler Abkommen. Vor allem die Sudetendeutschen hatten darunter zu leiden. Ihr Land wurde enteignet und an Tschechen verteilt, ihre Schulen geschlossen, deutsche Beamte aus dem Staatsdienst entlassen und vieles mehr (Die Sudetendeutschen, Langen Müller, 1992). Victor Laszlo wurde mit Sicherheit  Zeuge dieser Ereignisse. Doch was tat er zum Schutz der Minderheiten in seinem Land? 
   Und was ist mit Rick Blaine? Ist er der typische amerikanische Held? Nur in der Fiktion. Laut Film hat Rick 1935 Waffen nach Äthiopien geschmuggelt und 1936 im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, natürlich auf der richtigen Seite. So sehen sich die Amerikaner am liebsten, stets sind sie die Bewahrer von Frieden, Freiheit und Menschenrechten. Auf einige US-Bürger trifft dieser hohe Anspruch zu, aber längst nicht auf alle. Es gibt ernsthafte Hinweise darauf, dass die NSDAP von amerikanischer Seite mitfinanziert wurde, zumindest in ihrer Anfangszeit (Der Moloch, Heyne, 2002). Und selbst während des Krieges noch machten amerikanische Unternehmen glänzende Geschäfte mit dem Dritten Reich, u. a. Ford, General Motors und IBM. In Hitlers Büro hing sogar ein Porträt von Henry Ford, der sich in seinen Schriften (z.B. Der internationale Jude – Ein Weltproblem) als klarer Antisemit erwiesen hatte. Wahrscheinlich war er einer der amerikanischen Geldgeber des Nationalsozialismus. Eindeutig beweisen lässt sich das nicht, weil fast alle Akten und Publikationen zu diesem Thema seltsamerweise verschwunden sind. Kurios ist aber der Name eines der Hauptakteure in diesem undurchsichtigen Spiel: Er lautet Strasser. Gregor Strasser wurde 1928 von Hitler zum Reichsorganisationsleiter ernannt, als solcher war er auch mit der Finanzierung der Partei betraut, und er pflegte beste Beziehungen zur Wirtschaft.
   Unterschwellige Botschaften
  
   Die Schöpfer von Casablanca brachten es also tatsächlich fertig, den deutschen Nationalismus und Imperialismus anzuklagen – verschwiegen dabei aber den Nationalismus und Imperialismus der Franzosen, Tschechoslowaken und Amerikaner. Damit werden unterschwellig mehrere Botschaften übermittelt. Man kann sie unterscheiden in gedankliche und emotionale Aussagen. Die gedanklichen Kernaussagen lauten: Die Welt ist in einen guten und einen bösen Teil gespalten. Und: Das Böse hat keine Ursache. Daraus lässt sich ableiten: Denke nicht nach! Stelle keine Fragen! Vertraue den Guten! Bekämpfe die Bösen! Sei wachsam! Gewalt ist gut!
   Die emotionalen Kernaussagen von Casablanca lauten: Habe Angst! Sei wütend! Sei beruhigt! Die Liebesgeschichte zwischen Rick und Ilsa, die scheinbar im Mittelpunkt steht, ist lediglich der Köder, mit dem die Zuschauer angelockt werden. Auch das Menschenbild, das der Film verbreitet, ist höchst fragwürdig. Alle starken Rollen werden von weißen Männern gespielt. Ingrid Bergman ist der Prototyp einer unselbstständigen Frau, die ihre männlichen Partner abwechselnd anhimmelt oder sich ihnen unterwirft. Dooley Wilson, der den Barpianisten spielt und das berühmte As Time Goes By singt, übernimmt die typische Rolle eines Schwarzen: die einer Hilfskraft.  
   Deshalb ist Casablanca keineswegs ein schlechter Film. Im Gegenteil, er erfüllt seine Aufgabe perfekt. Die Aufgabe besteht darin, Menschen aufzuhetzen und für den Krieg zu begeistern. Das gelang im Jahr 1942, und es gelingt Jahrzehnte später immer noch. Wer heute Casablanca sieht, wird sagen, dass der Krieg der Alliierten richtig war. Und der nächste Krieg im Land X oder Y wird ebenso richtig sein, denn auch da und dort gibt es böse Menschen, die schlimme Dinge tun.
   Warum schaffen wir es nicht, den ewigen Kreislauf zu durchbrechen? Weil diejenigen, die heute politische Verantwortung tragen, mit Casablanca aufgewachsen sind. Und nicht nur mit diesem Film, auch mit zahllosen weiteren Filmen, Fernsehsendungen, Büchern, Theaterstücken und Zeitungsartikeln, die alle dieselben Aussagen wiederholen. Auch Künstler, Journalisten und Wissenschaftler sind damit aufgewachsen, sie haben die Botschaften tief verinnerlicht. Natürlich gab es das Casablanca-Prinzip schon lange vor 1942, und es ist nicht nur auf den westlichen Kulturraum beschränkt. Jede Epoche und jede Kultur hat ihr Casablanca.  
   Und trotzdem sind wir der Propaganda nicht hilflos ausgeliefert. Wir können sie hinterfragen, ihre Wirkungsweise analysieren und unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen. Casablanca sollte auch in Zukunft gezeigt werden – aber mit klarer Kennzeichnung als Propagandafilm. Der Film wird dadurch nicht abgewertet, das Interesse dürfte sogar noch steigen, da man ihn nun aus einem neuen Blickwinkel betrachten kann. Im Schulunterricht könnte man ihn vergleichen, etwa mit Jud Süß, einem deutschen Propagandafilm aus dem Jahr 1940. Natürlich wird manch ein Lehrer davor zurückschrecken, weil es zu unangenehmen Resultaten kommen kann – die Angst steckt tief in den Knochen der Generation Casablanca. Sie zu überwinden wird nicht leicht sein.
     Traum von einem Anti-Casablanca
   Eine Neuverfilmung von Casablanca könnte dabei helfen. Man könnte in Rückblenden die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges erzählen – doch dieses Mal vollständig! Man könnte fragen, was die Franzosen so alles in ihrer Kolonie Marokko getrieben haben und welches Beispiel sie damit anderen Völkern gaben? Dazu könnte man einen Marokkaner oder eine Marokkanerin auftreten lassen, in einer gleichberechtigten Sprechrolle, um die Perspektive der Einheimischen zu zeigen. Er oder sie könnte Capitaine Renault fragen, warum er gegen die Besetzung seines Landes durch die Deutschen ist, aber für die Besetzung Marokkos durch die Franzosen? Wahrscheinlich würde Renault empört antworten: Das darf man nicht vergleichen! Man könnte auch fragen, wie das Lied Die Wacht am Rhein entstanden ist? Man könnte fragen, welche Rolle die USA beim Aufstieg des Nationalsozialismus spielten? Man könnte fragen, was Victor Laszlo getan hat, um die Diskriminierung der Minderheiten in seinem Land (nicht nur der Deutschen) zu verhindern? Man könnte zeigen, in welchem Umfeld der junge Strasser aufgewachsen ist, ohne ihn als böse zu stigmatisieren. Vielleicht stammt er ja aus dem Sudetenland? Vielleicht ist er Victor Laszlo früher schon einmal begegnet? Auf einen Zufall mehr oder weniger kommt es nicht an.
   Wahrscheinlich werden nun einige Leser erbost aufbrüllen: Dadurch wird das Böse verharmlost! Stimmt. Es ist eine Verharmlosung im positiven Sinne. Die Kernaussage von Casablanca, die Spaltung in Gut und Böse, ist falsch. Wenn wir erkennen, dass das scheinbar Böse Gründe hat, können wir sie auflösen. Dann wird uns niemand mehr Angst machen oder in Wut versetzen können, wir werden unsere Gefühle bewusst erleben und uns nicht ungewollt von ihnen beeinflussen lassen. Echter Frieden ist möglich. Ein Anti-Casablanca wäre ein echter Liebesfilm.
Mehr über den Autor dieser Kritik: elkvonlyck.de

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