Film-Terrorismus transkulturell

Von Zyw
Eine Thriller-Idee, zwei Filme: CAVITE und AAMIR

I. CAVITE
CAVITE (2005) ist billig gedreht. Ian Gamazon und Neill Dela Llana, die zusammen auch das Drehbuch schrieben und den Film für ein Mini-Budget von 7000 US-$ produzierten, haben auf Video gedreht und aus der Hand; der Hauptdarsteller wird von einem der beiden Regisseure gespielt. Doch gerade das macht nicht nur den Charme des Films aus, sondern ist unabdingbar für die Spannung und die Intensität, die einen mit der verhältnismäßig einfachen, aber effektiven Idee in die Handlung und ihre Welt hineinzieht. Mehr noch ist die lebendige Ästhetik geradezu konstitutiv für das Gefühl der Reise, das Abtauchen in eine fremde, wenn hier auch etwas über-gefährliche, ein konstruierte Welt und einen wirklichen Konflikt, den man in der Distanz, aus der Position des unbeteiligten Westlers und Zuschauers heraus, zwar nicht ergründet, so doch aber quasi am eigenen Leib am Rande miterlebt (auch wenn CAVITE nur sehr bedingt ein viszeraler Film ist, also einer der auf den Magen schlagen will, auf diverse Körpersäfte und Organe zielt).
Etwas steif, mit wenig Charisma spielt Ian Gamazon Adam, einen aus den Philippinen stammenden US-Amerikaner, und gerade durch das fast schon Anti-Präsente Gamazons gerät die Hauptfigur umso glaubwürdiger, alltäglicher. Adam ist ein kleines Licht in Amerika, ein Einwanderer, der sich als Wachmann verdingt, der auf einen Parkplatz kontrolliert, dort raucht; wenig Energie legt er an den Tag. Um seine Mutter und Schwester in der alten Heimat zu besuchen, betritt er den Flughafen, telefoniert mit seiner Freundin. Die macht mit ihm Schluss, und wir merken schon, wie trostlos sich diese Beziehung in der letzten Zeit angefühlt haben muss. Adams Freundin war schwanger. Und hat abgetrieben.
Entsprechend beschäftigt und schon vorab zermürbt ist der junge Mann, als er in Manila landet, wo das gelb-schmutzige Licht die Hitze, die Schwüle und den Abgasdreck der Kleinbusse und Mopeds einfängt und repräsentiert, das gemeinsam mit dem Lärm, den Trubel eine ganz andere schwirrende Welt eröffnet. Adam stammt von hier, wirkt auch nicht ausgeliefert mit seiner gedrungenen Gestalt, mit seinen geraden Augenbrauen, den energisch-schmalen Augen und dem entschlossenen Mund im quadratischen Gesicht. Doch die eckige Brille, der Mittelscheitel, Umhänge- sowie Touristenrolltasche, die er für einen guten Teil des Films mit sich herumschleppen wird, verleihen ihm etwas Verletztliches. Diese „westliche“, (über-)„zivilisierte“ Seite verbindet uns mit Adam, uns, die wir derlei exotische Fremde höchstens als Touristen, auf Zeit und – wie erlebnishungrig und kontaktfreudig auch immer – mit (innerlicher; sicherer) Distanz besuchen und bereisen. Auch Adam ist nur mehr bestenfalls Besucher, und das mit einem leichten, ungeduldigen Widerwillen. So weist das Handgeführte der Kamera, die Momentbilder und ihr notierenden, einfangenden Blicke in CAVITE immer auch den Charakter eines Urlaubsvideos auf – freilich eines, das einen Horror-Trip dokumentiert.
CAVITE ist zunächst ein Thriller und Adam der theoretisch-perfekte Thriller-Held im Hitchcock’schem Sinne, zugleich einzigartig ein moderner: Er, ein Alltagsmensch, wird aus seinem Leben herausgerissen und hineingesogen in eine bedrohliche, unheimliche (Gegen-)Ordnung. Doch während beispielsweise in DER MANN, DER ZUVIEL WUSSTE (THE MAN WHO KNEW TO MUCH) 1956 James Stewart nebst Doris Day im exotisch-bunten Technicolor-Marokko vermittels eines sterbenden, zum „Araber“ angemalten Westlers unfreiwillig in der kulturlosen Parallelsphäre der Agenten und Attentäter landen und sich dort bewähren müssen, ist Adam in CAVITE Kind einer ortszerreißenden Globalisierung, für die bereits die Rückkehr eine eigene Unheimlichkeit im Sinne Freuds bedeutet – die Furcht, die auf die Wiederkehr des Verdrängten verweist, auf die Realität des Überwunden-Geglaubten.
Diese Unheimlichkeit steigert CAVITE mit einer „Genre-Wirklichkeit“: Am Flughafen wartet Adam vergebens auf seine Familie, per Telefon kann er sie nicht erreichen. So sitzt er da, raucht, trinkt den letzten Schluck Wasser, raucht wieder. Hurtig ist der Schnitt, nervös die Kamera, die hin und her ruckelt, springt, nah heran, wieder weg, die einzelne Personen einfängt – Wahrnehmungssplitter, denen sich der genervte Adam nicht erwehren kann. Bis ein Handy klingelt. Erst achtete Adam nicht darauf, bis er irritiert bemerkt, dass das Klingeln aus seinem Gepäck stammt. Einen großen gelben Briefumschlag findet er und darin das Telefon. Die Stimme in Tagalog am anderen Ende der Leitung verweist auf die Fotos – Aufnahmen von Adams gefesselter Mutter und Schwester (wir selbst bekommen die Bilder nicht zu Gesicht, nur gefilmte Assoziationsblitze, die eher Adams Wahrnehmung spiegeln).

Nun beginnt der Thriller CAVITE, der auf einer so grausig wie verblüffend einfachen, einer alptraumhaften und sadistischen Grundidee basiert. Von der namen- und stets auch gesichtslos bleibenden Gestalt wird Adam durch Manila und hinunter nach Cavite dirigiert, jener Region auf der Nordinsel Luzon, und nach Cavite City mit seinen knapp 100.000 Einwohnern. Beleidigungen und seelische Quälereien muss er dabei über sich ergehen lassen, auch Vorwürfe. Warum er nicht Tagalog spräche, ob er sich für seine Herkunft schäme? Ob er schwul sei (was Gott verachte)? Dass er ein schlechter Muslim sei. Es ist eine Art grausames Spiel, das Adam absolvieren muss, mit verschiedenen Stationen, die natürlich auch einem spannenden Handlungsablauf des Films dienen, zugleich uns – so wie Adam – mit der sozialen Realität der Philippinen bekannt macht (oder sie zumindest als eindringliche Folie nutzt): mit den Slums, dem Müll, der Armut der Menschen. Als missratener Muslim und heimatverratener Philippine werden Adam neben der Erfüllung des bis zuletzt im Dunkeln bleibenden Masterplan Lektionen in Sachen Heimatkunde verpasst: Ein widerliche Spezialität muss er auf einem Markt vertilgen, eine Cola bestellen, die ihm in einem durchsichtigen Plastikbeutel mit Strohhalm serviert wird: die Glasflasche selbst zu kostbar hier, in diesen bitteren Zuständen, in denen Kindern kaum mehr Alternativen als die der Kriminalität oder der Prostitution bleibt.
Immerzu muss sich Adam beobachtet fühlen, jeder seiner Schritte wird überwacht, jeder in seiner Umgebung ist verdächtig. Dabei ist der Kidnapper und Erpresser mit seinen Helfershelfern in der Wirklichkeit fest verankert: Er gehört zu Abu Sajaf, den „Schwertkämpfern“, die sich auch „Die Islamische Bewegung“ (al-Harakat al-Islamija) nennen, jene muslimische Extremistengruppe, die für einen südphilippinischen Gottesstaat fechten, für eine Stärkung der Muslimrechte und eine Autonomie u.a. von Mindanao. CAVITE präsentiert den üblichen Schlagabtausch, den man in praktisch jedem Terrorismusfilm findet: die Debatte um die Rechtmäßigkeit der Mittel; der Terrorist, der sein Tun als Notwehr und Nothilfe legitimiert. Bombenanschläge werden gegen Massenmord und ethnische Säuberungen von Staatsseite her aufgerechnet.
Zugleich aber untergräbt CAVITE diesen Exkurs um Sinn und Hintergründe durch Grausamkeiten, die Adams Gegenspieler, die ohnehin schon die volle Macht über ihn haben, zu skrupellosen, zu obszönen Monstren machen, somit als ernsthafte „Gesprächsteilnehmer“ mit berechtigten Anliegen entwerten: Um ihn quasi zu disziplinieren, wird ihm der abgeschnittene Finger seiner Schwester in einer Zigarettenschachtel präsentiert; als Strafe für Insubordination zuerst Schreie am Telefon und schließlich: die herausgeschnittene Zunge (angeblich seiner Mutter) am Wegesrand.
In solchen Momenten siegen Schock, Ekel, das Spektakel des Genres über das Reduzierte der Idee, den Existenzialismus der Situation und die Ernsthaftigkeit der Begegnung mit einer fremden, fernen Kultur, die ja auch für die Filmemacher schließlich (Alte) Heimat ist und zugleich von ihnen – man kann sich diesem Gefühl nicht ganz erwehren – in den Schmutz gezogen und für Thrill und Horror etwas billig verkauft werden. Ein Mord in einer Seitengasse; blutige Hahnenkämpfe: Haben wir es hier mit den folgen sozialem, ökonomischem und politischen Schindluders zu tun oder mit „natürlichen“ Missständen?
Doch natürlich will CAVITE keine Analyse betreiben oder politisches Statement sein; und über seine Status als No-Budget-Film, für den beim guerilla-shooting auf Freunde und Familie zurückgegriffen wurde, ist gerade dieser Einbezug des Genres auch als eine ideologische Formation insofern eindrucksvoll, als sie doch unterlaufen wird. CAVITE überrascht auf bemerkenswerte Weise, sei es dank der Beschränktheit der technischen und organisatorischen Mittel, sei es in einem erzählerischen Finale, das sich nur eine DIY-Produktion erlauben kann.

Einer Direct-Cinema-Beobachtung gleich folgt die agile, von Neill Dela Llana gelungen und eindringlich geführte Kamera Adam eng durch die Gassen, Straßen, durch Häuser, in denen er neue Weisungen erhält oder eine weitere Aufgabe zu erledigen hat, ohne das große Ganze zu durchblicken. Einmal aber „verlieren“ wir: In einer Bank soll er Geld abholen, doch während er sie betritt, wir ihm und seinen Entführer, der ihn weiter verhöhnt und befielt, noch ein wenig auf der Tonspur folgen, bleiben wir „körperlich“ draußen und begleiten dort einen kleinen Junge, der Adams Weg gekreuzt hat. Mit ihm streifen wir durch die Stadt, sehen zu, wie er auf dem Bordstein einen McDonald’s-Burger isst, eher wir wieder bei Adam landen, der sein Bankgeschäft erledigt hat.
Es ist aus der Not geboren, diese Idee, da man nicht im Kreditinstitut drehen konnte, doch der Junge wird uns wieder begegnen, wenn er seiner Großmutter die andere Hälfte der Fast-Food-Portion bringt, ein kleiner Seitenblick, der gleichwohl nicht dumpf auf eine ökonomische Ausbeutung, auf Waren-, Marken- und Wertzirkulation schimpft.
Und: Adam ist letztlich kein Zufallsopfer; zur Marionette wird er nicht nur aus (diegetisch) symbolischen, sondern aus persönlichen Gründen: Sein Vater, so erfährt er im Verlauf seiner Odyssee, hat Geld der Islamisten unterschlagen und damit Adam weiland in die USA gebracht. Es ist also im übertragenen Sinne die Schuld der Väter, für die Adam büßen, für die er Abbitte leisten muss. Doch es langt nicht, mit dem gestohlenen Geld von der Bank zu bezahlen. Seine letzte Aufgabe: Eine Bombe, die nun in seiner (kurzzeitig entwendeten) Rolltasche steckt, in einer christlichen Kirche zu deponieren. Adam ist entsetzt, betritt aber die Kirche, setzt sich zu den Gläubigen. Und will nicht gehen, während die Uhr tickt. Das Mastermind, der per Handyheadset bei ihm ist, will aber keinen Märtyrer, befiehlt ihm, zu gehen, gibt ihm schließlich auch letzte Richtungsanweisung: Wo er seine Familie findet. Und Adam – ein einfacher Mensch, ein Mann, der bei aller Thriller-Dramaturgie und wie Millionen andere Männer kein Held ist – lässt schließlich tatsächlich die Tasche unter der Bank, verlässt mit zitternden Lippen das Gotteshaus. Über einen der notdürftigen Holzstege geht er über das verschmutze, unratsatte Brackwasser des Armenviertels auf die beschriebene Hütte zu, bleibt davor stehen.
Schnitt: Adam wieder im winterlichen, weihnachtlichen Amerika, in seiner blauen Security-Uniform unterwegs, gezeichnet, zerstört. Adam, der daheim auf dem Fußboden sitzt; er trifft sich mit seiner (Ex-)Freundin, diesmal von Angesicht zu Angesicht. Sie hätte es nicht ertragen, dass ihr Baby als Muslim aufwächst. Nachts, allein im Bett, beginnt Adam zu beten, um sein Seelenheil.
Ob er Mutter und Schwester gefunden hat, ob sie noch am Leben waren, ob die Bombe hochging, das alles lässt CAVITE aufreizend offen, vielleicht gar, ob es sich nur um einen Albtraum gehandelt hat. Oder ob der Schluss eine Rückblende ist. Vielleicht waren Zunge und Finger gar nicht „echt“, von anderen Toten, und die Bombe keine Erschütterung der Christenheit und des Staates, sondern eine einzig von (und für) Adam, eine Attrappe und eine Lektion, neben dem Geld, das es wiederzuerlangen halt. Eine Lektion, die er am Ende gar – und das lässt einen bei diesem Film frösteln – gelernt hat?
Die beiden Philippino-Amerikaner Ian Gamazon und Neill Dela Llana haben sich schon vor dem 11. September 2001 der Idee und Story zu CAVITE gewidmet, auch wenn der Film erst 2005 Premiere hatte. Inspiration bot die reale Gewalt in Südostasien genug, auch in den USA und jenseits eines natürlichen Interesses für das Herkunftsland: Im Jahr 2000 wurde der US-amerikanischen Muslimkonvertit Jeffrey Schilling gekidnappt und konnte im April 2001 fliehen. Auch hierzulande erregte vor allem die Entführung von über 20 Touristen (darunter die deutsche Familie Wallert) durch Abu-Sajaf-Rebellen aus einem malaysischen Ferienressort im April 2000 Aufmerksamkeit und Entsetzen.
Doch um was ging es ihnen?
Ian Gamazon: „Well, I think the idea we wanted to come across is that this character goes through hell in the Philippines and he comes home, and this is what he has to deal with. This Western naiveté, I guess“ (in: Rowin 2006).
Ein bisschen dürfte es auch die eigene Naivität gewesen sein, eine, die in CAVITE allerdings kreativ und suggestiv eingesetzt wurde.
9/11 war dann freilich doch maßgeblich für CAVITE, so wie generell für das Thema Terrorismus und politische Gewalt. Neill Dela Llana: „[…] 9/11 actually enhanced – not enhanced the Philippine-Muslim conflict, but brought it out into the open even more, so we were like, ‚Okay, now we’ve got something to work with.‘ So 9/11 wasn’t directly involved in the writing process, but it kind of brought out a lot of what we didn’t know before about what was happening in the Philippines“ (ebd.).

II. AAMIR
Die Globalisierung nicht nur des medienvermittelten (vielleicht gar: medieninduzierten) Terrorismus mit seinen Bildern trifft hier auf eine des Kinos und seinen Erzählungen:
CAVITE wurde nicht von Hollywood-Thrillern wie PHONE BOOTH / NICHT AUFLEGEN! von 2002 (ein Mann in einer Telefonzelle in Manhattan wird von einem „unsichtbaren“ Heckenschützen als Bestrafung für moralische Vergehen manipuliert, kontrolliert und gedemütigt, derweil die Polizei ihn für den Amokschützen hält) zwar vielleicht nicht inspiriert, so jedoch quasi überholt: Ausgehend von einer Idee, die mit geringem bis nicht vorhandenem Budget zu realisieren war, verbrachten die beiden Filmemacher Jahre, an dem Drehbuch zu arbeiten.
„Phone Booth came out, Cellular came out — we were like, ‚Oh, man, we gotta watch these movies and make sure we’re not close, I mean we’re close enough, but we want to get the heck away from those movies as far as possible‘“.
So weit wie möglich weg – das gilt nun nicht für einen anderen Film im Kielwasser des kleinen CAVITE. Nicht Hollywood, jedoch eine andere große Filmindustrie interessierte der Film: Bollywood.
2008 kam AAMIR, das Debut von Ray Kumar Gupta, der das Drehbuch schrieb und Regie führte. Der populäre Hindi-Film zeigt generell wenig Hemmungen, sich im Bedarfsfall bei Hollywood kräftig und unbekümmert zu bedienen, wobei freilich den indischen Anforderungen an das Unterhaltungskino in puncto Genre- Vielfalt, Erzählstrenge, Familienwerte, Moralkodex, Patriotismus etc. bei der Adaption genüge getan wird.
Im Falle von CAVITE klagten Llana und Gamazon wegen Urheberrechtsverletzungen. Gupta verwahrte sich jedoch gegen den Plagiatsvorwurf, und auch AAMIR-Kooproduzent Vikas Bahl von UTV-Spoofboy erklärte:
Basically, Aamir is written and directed by Rajkumar Gupta and he wrote the story even before the English film, Cavite, was released. We had registered it at the Writers' Association. But then after some time we realized that the story of Cavite was very similar to Aamir hence we approached the writers and makers of Cavite and bought the adaptation rights as that's the right thing to do.“ (Bollysite.com; siehe auch Hindustan Time HIER)
Vikas wies auch auf die universelle Idee, die beiden Filmen – irgendwie – zugrunde liegen, hin, ebenso auf die Unterschiede, die vor allen den Höhepunkt bzw. den Schluss betreffen. Wenn freilich die außergerichtliche Zahlung nur des lieben Friedens willen geschah, dann stellt sich die Frage, weshalb vor den Credits von AAMIR „aufrichtigen Dank“ Ian Gamazon und Neill Del Llane ausgesprochen wird…
Wie dem auch sei: AAMIR weist deutliche Ähnlichkeiten mit CAVITE auf, aber gerade als Adaption für das indische Kino auch beredte Unterschiede. Zunächst ist das Hindi-Mainstream-Produkt AAMIR durch einen höheres, gleichwohl immer noch gemäßigtes Etat geprägt: Zwischen 300.000 und 450.000 Dollar werden als Zahlen genannt, wobei die Kosten bzw. der Dollar-Wert, wie er in Indien herrscht, zu berücksichtigen ist. In den USA kostet ein Studiofilm im Durchschnitt 50 Mio. US-$, in Indien 1,5 Mio. US-$.
Entsprechend orientieren sich Inszenierungsstil und Ästhetik an der etablierten Kino-„Sprache“ Indiens inklusive der – für westliches Empfinden bisweilen ulkig bis parodistisch anmutenden – ausgedehnten Zeitlupen (vor allem am Schluss) und anderer pathetischer und emphatischer Griffe, was auch Musik und Songs einschließt (letztere werden nur ein, zweimal eingesetzt und nur als Bilduntermalung, nicht als Song-and-Dance-Szene).
Von der unmittelbaren Authentizität von CAVITE und der Reduktion ist also nicht mehr geblieben: AAMIR ist durchinszeniert, was auch für das Mumbai als Kulisse, Parcours und Ort des Schreckens gilt, der hier allerdings die direkte Heimat des Publikums bedeutet.
Das ist der wohl wichtigste Unterschied: Mit CAVITE besuchen zwei Filmemacher ihr exotisches Heimatland, mit AAMIR betrachtet Indien, speziell Mumbai, sich selbst, genauer: seine schmutzig-gefährliche Unterseite. Das heißt, die Trennlinie läuft hier nicht vertikal zwischen Ländern und Kulturen, sondern horizontal: die Mittel- und Bürgerschicht beschaut die eigenen Slums, die desolaten Wohn- und Hygienebedingungen (in einem öffentlichen, widerlichen Abort muss Aamir eine neuen „Hinweis“ suchen, erbricht sich hinterher), die Kriminellen, Huren, Bettler und Terroristen.
Freilich: Es ist kein realistisches Bild, sondern die des populären Hindi-Kinos – die wohlig-schaurige wie gefahrlos in Versatzstücke und Manierismen verpackte Imagination. Wenn sich der weiche, passive, der „verwestlichte“ Aamir gegen die Diebe des Aktenkoffers voller Geld, den er von Mafiosi abholen musste, durchsetzt, sich ermannt, dann verhaut er sie so ausgiebig und physisch-folgenlos, dass man sich an einen Bud-Spencer-Film erinnert fühlt oder an einen Bauernschwank, und das Derb-Komödiantische mit seiner Physis auf und vor der Leinwand (den Watschn hier, dem Schenkelklopfen dort) hat im kunterbunten Bollywood ohnehin seinen festen Platz.
Zentraler Ausdruck der markanten Umwendung, Adaption und Aneignung der Idee von CAVITE ist in AAMIR entsprechend die Haupt- und Titelfigur: Aamir (gespielt von Rajeev Khandelwal, der zuvor nur im Fernsehen, vor allem in der Krimiserie C.I.D., aufgetreten ist) ist kein expatriierter Nachtwächter, sondern Arzt in/aus Großbritannien, ein NRI, ein Non-Resident Indian, wie er in Bollywood einen eigenen Typus darstellt: ein Erfolgsmensch, der es in der westlichen Fremde immerzu (und egal in welchem Job) geschafft hat, dabei dessen Attribute übernommen (aber die Ehrenwerte der Heimat behalten) hat. Nicht in Khakihosen und rotem Hemd wie Adam, sondern standesgemäß im Anzug kehrt Aamir nach Mumbai zurück – und wird am Flughafen schon bei der Pass- und Kofferkontrolle schikaniert, weil er (so wirft er es dem Beamten vor) lediglich Muslim sei.
Draußen vor dem Airport steckt dann nicht wie in CAVITE wie durch Zauberhand das Handy in seiner Tasche: Ein bedrohlicher Motorradfahrer mit Integralhelm schreitet zu düsteren Klängen in Zeitlupe auf ihn zu reicht, reicht ihm das Mobiltelefon. Der Erpresser am anderen Ende der Leitung bleibt in AAMIR für den Zuschauer nicht unsichtbar, sondern wird von Gajraj Rao als Terrorpate mit kahlem Schädel und dunklen Augen gespielt, der im Zwielicht seiner Wohnung auf einem Stuhl sitzt, isst, mit seinem Kind spielt und mit sonstigen Registern der vordergründig-vordergründigen Harmlosigkeit umso sinisterer wirken soll.
Auf der anderen Seite steht Aamir als aufrechter, aber verzweifelter, ausgelieferter Held dar. Seine Reise in die bedrohlich-paranoid gewendete Normalität der Megalopolis Mumbai fällt action- und fintenreicher aus als es bei CAVITE der Fall ist. Auch stehen dem Protagonisten eine größere Verschwörung, zumindest was die offen involvierten Helfershelfer anbelangt, gegenüber, fordern ihn jeweils ganz eigen heraus: Dem ihm zugeteilten Taxifahrer am Flughafen muss er hinterherrennen, weil er nicht rechtzeitig der Order folgt und einsteigt.
Wie Adam muss der sich der dereinst „ sich davongestohlene“, sein Land und Volk im Stich lassende Aamir (vom arabischen Amir = Emir; Anführer) eine Lektion in muslimischer Pflicht und Verantwortung im Verständnis radikal-islamistischer Gewalttäter und ihrem „Dschihad“ gegen die Hindu-Majorität über sich ergehen lassen.
Diskriminierung, auch Übergriffe oder die fürchterlichen Pogrome, Babri-Moschee, Kaschmir und der feindliche Nachbar Pakistan – es gibt große Probleme und Spannungen in dem Riesenreich Indien, und Bollywood nimmt sich ihnen unermütlich an, versucht zu vermitteln oder zumindest niemandem auf die Füße zu treten. Entsprechend ist der unfreundliche, muslimfeindliche Zoll-Beamte am Anfang von AAMIR nicht durch den Terrorismus, wie er hier von dem maliziösen Mastermind ausgeht, in seiner Haltung bestätigt, sondern als Zugeständnis an die realen Vorurteile und ihre Ausprägungen im Land aufzufassen.

Die Figur Aamir hat aber auch in dieser Hinsicht einen besonderen ideologischen Reiz, insofern er selber Muslim ist. Mit Aamir wird ein erzählerischer Topos genutzt, den man auch seit dem 11. September im US-Kino und -Fernsehen vermehrt vorfindet: Die Gegenüberstellung von gutem und bösen Muslim mit ihren jeweiligen Figurenkonstrukten. Diese Kontrastierung hat den Vorteil, dass man keinen Kampf der Kulturen (was auch heißt: zwischen unterschiedlichen Nationen, Religionen, Volksgruppen etc.) als Verständnisbild zeichnen, damit gar bedienen braucht und zugleich die Gefährdung durch Extremisten auch als Gefahr für deren Eigengruppe kennzeichnet, diese somit an sich bindet, narrativ einsoldiarisiert, zum Partner im Kampf macht und sich selbst in den Hintergrund zurückziehen kann. Des Weiteren wird die weltanschauliche Basis der Überzeugungstäter wie auch ihren Vertretungs- und Avantgarde-Anspruch einfach und behände unterminiert.
Wenn also Aamir, Adam und ihre jeweiligen dämonischen Widersacher um die rechte Auslegung des Korans und das wahre Verständnis von Dschihad (innerer oder äußerer „Krieg“) streiten, delegitimiert das die Gewaltanhänger im Namen Gottes stärker als der wohlfeile Gewalt-ist-böse bzw. -auch-keine-Lösung-Ansatz westlicher Attackierter und ihrer Filmrepräsentanten, die sich angesichts von Historie und Machtpolitik ohnehin nicht mehr glaubhaft (oder sinnvoll) auf eine allgemeine „Unschuld“ berufen können.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Finale von AAMIR auf den ersten Blick eklatant von dem CAVITES, ist aber nur die – gleichwohl überaus düstere – Konsequenz der grundlegenden Umformung des Filmstoffs. Dabei spielt AAMIR zunächst (wenn auch weit weniger stark wie CAVITE) mit einer bestimmten Deutungsoffenheit des Gezeigten: Wir sehen, wie der böse Mann am Handy mit der Pistole in den Nebenraum stürmt, wo Aamirs Mutter, der Bruder und die zwei jungen Schwestern verängstigt festgehalten werden. Mit dem Mut der Verzweiflung ringen sie mit ihm, aber nach und nach und mit erlesener tragischer Grausamkeit werden Aamirs Angehörige erschossen – zuletzt die Mutter, die entsetzten Augen direkt aufs Publikum gerichtet.

Es bleibt aber mehr als fraglich, ob sich diese Morde in der filmischen Wirklichkeit tatsächlich zutragen oder nur Aamirs Vorstellung entspringen, ein Ausmalen und innerliches Aufgeben sind: Unvermittelt wird von einem nachsinnenden Aamir in die besagte Szene geschnitten und anschließend direkt auf ihn zurück. Auch dass man nicht – wie zuvor vom „neutralen“ Standpunkt des Zuschauers aus – das Gesicht des Mörders zu sehen bekommt (sowenig wie eben Aamir das Antlitz seines Widersachers je kennen wird), sprechen für eine schreckliche Phantasie. Und tatsächlich: Als er mit dem Bus unterwegs durch die Stadt ist, den roten Geldkoffer zu seinen Füßen, da blickt er aus dem Fenster und sieht Mutter und beiden Schwestern ausgelassen beim Einkauf. Oder ist das wiederum eine Einbildung, irrt er sich in den Personen? Waren sie nie in der Gewalt des Terrorpaten? (Wie sonst ließe sich ihre Ausgelassenheit erklären – Schluderei bei Dreh und Skript?)
Im Bus erreicht Aamir der letzte Anruf: Er soll den Bus verlassen, den Koffer stehen lassen. Denn das Geld wurde in einer perfiden (gleichwohl nicht sonderlichen plausiblen) Wendung ohne sein Wissen gegen eine Bombe ausgetauscht; der Bus ist das Anschlagsziel. Dramatisch und psychologisch dehnt sich die Zeit nun; Aamir, schockiert, verlässt tatsächlich das Transportmittel, sein Auftrag ist erfüllt. Doch dann, angesichts der Kinder und all der übrigen unschuldigen Menschen, da entscheidet er sich doch anders, stürmt in den Bus, muss sich hinein- und hinauskämpfen; mit dem roten Aktenkoffer vor der Brust rennt er über die Straße, wirft sich in eine Baugrube.
Wo die Bombe mit ihm explodiert.
Abschließende Nachrichteneinspieler präsentieren die offizielle Lesart des Geschehens: des Selbstmordanschlags, bei dem aus unerfindlichen Gründen, nur der Attentäter sein Leben ließ.
Je nach Sichtweise und Interpretationswillen ist das ein effekthascherisches, ei plumpes oder – unabhängig von den investierten Gedanken der Filmemacher – ein gruselig-gemeines, pessimistisches Ende. Zwar ist Aamirs Tod kein melodramatisches Ende wie das der Liebenden in DIL SE (die freilich in einer großen Motivtradition der leidenschaftlichen Selbstmörder auch im Mittleren und Fernen Osten stehen), doch der es ist trotzdem ein dem populären indischen Erzählen bekannter heroischer Akt der Selbstaufopferung für die Familie und Unschuldigen, für die Gemeinschaft, im weiteren Sinne auch für den Glauben und vor allem: für das indische Vaterland in der Sitte des Bollywood-Kinos als moralische und patriotische Anstalt. Das der Schurke davonkommt, lässt sich bei dieser Tragödie verschmerzen.
Auf der anderen Seite drängt sich hier mehr noch als bei CAVITE die Frage nach der perfiden Rationalität der Terroristen auf. Im US-philippinischen Film bleibt die „Realität“ der Bombe offen (ebenso wie Adam auf erschreckend realistische Weise kein Held). Aamir als suicide bomber ist in AAMIR diegetisch für die Terroristen attraktiv, weil medienwirksam (eben wie er es für das Kino als politisch korrektes Korrektiv und Konter gegen Radikalislamisten ist): ein NRI, ein Arzt aus dem fernen, feinen London, der extra für den gottgefälligen Freiheitskampf heimkehrt und sein Leben gibt – das hat Schock-, Irritations-, zumindest erhebliches Aufmerksamkeitspotential (man kann auch sagen: Nachrichtenwert).
Entsprechend verwundert es, weshalb der Terroristen-Boss Aamir nicht zum Märtyrer wider Willen macht, sondern ihn anweist, den Bus zu verlassen, statt ihn mit den anderen Passagieren in die Luft gehen zu lassen. Ist es da doch eine Rücksichtnahme auf und Achtung eines Glaubensbruders und (wenn auch widerwilligen) Kriegskameraden?
Das Unheimlichste aber für uns als Zuschauer, die wir von AAMIR emotional gelenkt, angesprochen und doch zumindest in Grundzügen abgeholt werden wie von praktisch jedem Spielfilm, ist, dass dies letztlich auf Basis derselben Werte- und Gefühlslogik basiert, die auch Terroristen schamlos ausnutzen – ohne die es sie gar nicht geben könnte. Es ist zwar eine andere, eine meta-narrative Ebene, aber: Ähnlich Adam, der am Ende von CAVITE wieder zum Glauben findet (so wie es wohl sein Folterer intendiert hat, zumindest aber wohl gerne sähe), opfert Aamir für den tragisch-positiven Ausgang, dem man (so noch) dem Massenpublikum zumuten kann, sein Leben für andere und im Namen eines höheren Guts.
Sicher, Aamir tut es aus dem Moment heraus und um Menschenleben zu retten, nicht um sie in einem barbarischen, rein symbolisch-demonstrativen Akt zu zerstören und zu vernichten. Doch diese heldenhafte Selbstaufgabe, die letzte Initiative und der Widerstand des ansonsten bis dahin weitgehend passiven, gelenkten, beherrschten, des nicht zu sich selbst gekommenen „Anführers“ gegen seinen Unterdrücker – dies erscheint doch erschreckend struktur-analog zur Logik von „echten“ Selbstmordattentätern.
Überspitzt gesagt: Der Spielfilm AAMIR samt der Affektpoetik und den Werten des Kinos dahinter lassen Aamir zu einem Märtyrer werden, wie ihn die Terroristen im Film ironischerweise (auch entgegen der herrschenden Terrorismusversatzstücke der populären Imagination) selbst gar nicht haben wollten.
Übrigens:
Auch die IRA in Nordirland griff kurzzeitig auf das menschenverachtende Mittel der lebenden Bombe zurück: 1990 wurden Unschuldige gezwungen, auf britische Straßensperren in Sprengstoff beladenen Fahrzeuge zuzufahren, die per Fernzündung zur Explosion gebracht wurden. Als Druckmittel dienten Angehörige, die sich in der Gewalt der IRA befanden. Diese „Taktik“ war als solches ein „PR-Desaster“, beschädigte Sinn Féin und entsetzte und verschreckte auch härteste Sympathisanten der Republikaner. Letztlich trug sie dazu bei, die Falken innerhalb der Bewegung zu schwächen und jene zu stärken, die den politischen Weg gegenüber dem bewaffneten Kampf favorisierten (vgl. Moloney 2007: 349).
Bernd Zywietz
Quellen:
Bollysite.com: "We have taken the adaptation rights of Cavite for Aamir" - Vikas Bahl
http://news.bollysite.com/bollywood/we_have_taken_the_adaptation_rights_of_cavite_for_aamir___vikas_bahl.html
Moloney, Ed (2007): A Secret History of the IRA. (2. Aufl.). London: Penguin
Rowin, Michael Joshua (2006): Chronicle of a Disappearance – Cavite: An Interview with Neill Dela Llana and Ian Gamazon. http://www.reverseshot.com/article/dela_llana_ian_gamazon