Filderkraut


Es herrschte tiefe Dunkelheit, als Bauer Hämmerle seinen Krautacker auf den Fildern erreichte. Fröstelnd kletterte er von seinem Einundsechziger Eicher, dessen hellblaue Lackierung mit der undurchdringlichen Nebelsuppe verschmolz, die alles wie ein Leichentuch bedeckte. Zischend atmete Hämmerle einen Schwall eiskalter Luft ein und hob den Kopf, um den Reifegrad seiner Kohlköpfe zu erschnuppern. Dann zündete er sich eine Ernte 23 an und wartete auf die Morgendämmerung. Während er rauchend an seinem Traktor lehnte, vernahm er plötzlich, gedämpft durch das gleichmäßige Blubbern des Dieselmotors ein leichtes Schaben und Kratzen, das so klang, als käme etwas im Schutze der Dunkelheit näher gekrochen. Hämmerle blickte sich suchend um. Nichts zu sehen, aber das lag zweifellos am dichten Nebel, der in schweren Schwaden über dem Acker waberte und alles, was mehr als zwei Meter entfernt war, in gleichförmigem Grau verschwinden ließ. Der Bauer blickte auf die grünlichen Leuchtzeiger seiner Armbanduhr, deren Glas in der feuchtigkeitsgesättigten Luft sofort beschlug und beschloss, sich bis zum Sonnenaufgang noch ein wenig die Füße zu vertreten.
Mit weit ausholenden Schritten, die Hände tief in die Taschen seines Bundeswehrparkas vergraben, stapfte Hämmerle entschlossen um seinen Bulldog und den angehängten Ladewagen. Dabei setzte sich immer mehr matschiger Ackerschlamm an den Profilsohlen seiner wuchtigen Filzstiefel fest und machte die Schritte schwer und schwerer. Schließlich hatte er sein Gespann einmal umrundet. Hämmerle hielt an und besah sich sinnend die Kohlköpfe, die in nächster Nähe wuchsen. Unwillkürlich begann sein Herz, schneller zu schlagen. Waren die Gewächse während seines Spaziergangs etwa näher gekommen? Papperlapp. Im Nebel werden die Augen leicht einmal getäuscht. Hämmerle atmete auf, blickte Richtung Horizont und setzte zur nächsten Runde an. Als er nach einiger Zeit, eine neue Zigarette im Mund, wieder am Ausgangspunkt angelangt war, traute er seinen Augen nicht. Die Krautköpfe standen jetzt in der Tat wesentlich näher am Traktor als zuvor. Und es waren mehr geworden. Sehr viel mehr, denn sie waren plötzlich dicht an dicht versammelt und bildeten einen Ring um ihn. Eiskaltes Entsetzen überkam Hämmerle und er hatte das Gefühl, eine Hand würde, gleich einem Schraubstock, seine inwendige Anatomie langsam und erbarmungslos zusammenquetschen.
Der Bauer stand wie erstarrt neben seinem Schlepper und schwankte zwischen sturem Unglauben und nacktem Grauen. Etwas in ihm wollte auf der Stelle die Flucht ergreifen. Doch gleichzeitig hielt ihn der Gedanke, dass er die Ernte einbringen musste, ehe sie verdarb, davon ab, auf den Traktor zu steigen und einfach davon zu fahren. Seine Frau, ja alle würden ihn für vollkommen verrückt halten. In diesem Augenblick hörte er das Schaben erneut und diesmal war es direkt vor ihm. Die halb gerauchte Zigarette fiel ihm aus dem Gesicht, als er sah, was sich zu seinen Füßen abspielte. Ein Kohlkopf war näher gekommen und versuchte, auf seinem linken Stiefel Fuß zu fassen. Mit einem erstickten Aufschrei und einem heftigen Tritt kickte der Landwirt die Pflanze in den Nebel. Doch es war zu spät. Mehrere Kohlköpfe hatten sich unterdessen von hinten angenähert und schlugen ihre Wurzeln um Hämmerles Stiefel. Rasch wollte er sich auf seinen Traktor in Sicherheit bringen, doch er hatte zu lange gezögert. Er schaffte es gerade noch, den einen Fuß auf das Trittbrett seines Bulldogs zu bekommen, doch der andere wurde von den Krautköpfen mit eisernem Griff am Boden festgehalten. Und nicht nur das. Hämmerle hatte das schreckliche Gefühl, in die schwarze, fette Erde hineingezogen zu werden.
Verzweifelt versuchte er, sich mit aller Kraft auf den Sattel seines Eichers zu stemmen, als er bemerkte, dass der Platz schon besetzt war. Mehrere Spitzköpfe des Filderkrauts, Handelsklasse A waren irgendwie unbemerkt von der anderen Seite auf die Sitzfläche gelangt und griffen den Bauern nun von vorne an. Ein Kohlkopf sprang Hämmerle ins Gesicht und trieb sofort sein dreckverklumptes Wurzelwerk in dessen Ohren, Nasenlöcher und den Mund, mit dem er gerade zu einem verzweifelten Hilfeschrei anheben wollte, von dem er genau wusste, dass ihn niemand hören würde. Hämmerle stürzte rückwärts von seinem laufenden Traktor, krachte mit einem dumpfen Aufschlag in das tiefe Geläuf des Ackers und versuchte in einem letzten Aufbäumen, sich von den mörderischen Kohlgewächsen zu befreien, die nun zu Hunderten über ihn hergefallen waren. Doch es war vergebens. Die rasenden Pflanzen hatten den Bauern fest im Griff ihrer Wurzeln und drückten ihn unbarmherzig immer tiefer in den feuchten und schweren Boden. Schließlich hörte Hämmerle auf zu zappeln. Er war tot.
Am östliche Horizont wurde es langsam hell und die aufgehende Sonne tauchte die Nebelfahnen über dem Feld in einen malerischen Orangeton, als die Kohlköpfe ihr mörderisches Werk endlich vollendet hatten. In der Ferne hörte man das Krächzen einiger auffliegender Saatkrähen. Ein paar Hasen jagten am Feldrain entlang und verharrten von Zeit zu Zeit lauschend, um an heruntergefallenen Kohlblättern zu mümmeln. Hämmerle, der an diesem Morgen eigentlich sein Filderkraut ernten wollte, lag mausetot einen knappen Meter tief unter der Ackerkrume und die Pflanzen hatten sich, einem lautlosen Kommando folgend, auf dem Feld ordentlich in Reih' und Glied zurückbegeben. Alles war wie immer. Bis auf die glühende Zigarettenkippe in einem Stiefelabdruck und dem Einundsechziger Eicher, dessen Motor noch lief.

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