Filadelfia

Das laute Zirpen erinnert mich an den Sommer. Die Sonne ist längst verschwunden. Die drückende Hitze liegt immer noch, nun aber hinterlistig, im Asphalt und im Staub, im Lehmstein und auf Wellblech, in den Büschen und Bäumen. Der Wind streicht durch die Kronen. Ein Grenzsoldat auf dem Weg zur Arbeit kickt Steinchen vom Gehsteig. Ein wütendes Knurren, Fletschen und dann Aufheulen spitzt die Ohren zweier Hunde, die sofort, mit erhobenen Schwänzen, auf die andere Straßenseite hecheln und zu bellen beginnen. Aus einer Bar dröhnen Bässe. Die Stühle auf dem Vorhof sind spärlich besetzt. Taxen kutschieren umher, Jugendliche auf klappernden Motorrädern, tiefergelegte Autos, vibrierende Scheiben. Der Fisch speit noch immer kein Wasser. Schließlich kommt der Bus, mit einer Stunde Verspätung, um drei Uhr morgens an. 70 Kilometer weiter östlich haben wir die Ausreisestempel Boliviens. Es ist vier Uhr in der Früh. Der Sternenhimmel erinnert mich an die Kindheit: Je länger ich in den Himmel schaue umso mehr Sterne tauchen auf. Sogar der Schweif der Milchstraße ist zu sehen. Der Mond liegt als Sichel, eingebettet in den Wolken. Um kurz vor sechs passieren wir die Grenze Bolivien-Paraguay.

Eine letzte Erfahrung mit bolivianischer Eigenart lässt mich mich zu dem Schluss kommen, dass ich ›die‹ Bolivianer nicht ausstehen kann, nein, nicht wirklich nicht, nein, ich meine, Bolivianer, wie diese: Nach und Nach bekommen wir unsere Stempel, ich habe meinen bereits und stehe an der Tür zum Bus. Derweil wühlt unser Fahrer in seiner Kabine. Eine Tüte purzelt hinunter, auf den Boden. Bevor ein ausgehungerter Straßenhund nach ihr haschen kann, habe ich sie aufgehoben und reiche sie dem Fahrer. Alles was er über die Lippen bringt ist ein ›Die Fahrkarte, bitte‹.

Vormittags erreichen wir die paraguayische Migrationsbehörde, nach 200 km Trockenwäldern und Dornbuschsavannen des Gran Chaco – wir sind also mitten im Land, als wir auf Schmuggel und Drogen hin untersucht werden. Die Behörden treten martialisch und herablassend auf. Ach ihr Autoritätsschwuchteln, clever seid ihr, aber längst nicht so clever wie die Verzweifelten … Allesamt in einem Befehlston, der einem irgendwelche Gefühle von Schuld, Hörigkeit oder Ergebenheit aufzudrängen versucht. Das Blau des Himmels hat sich verschwärzt. Es fallen große Tropen auf das Wellblech, unter dem wir alle auf unsere Gepäckuntersuchung warten. Dass man des einen Unterhose bis auf die letzte Naht auseinanderschneidert und dem anderen nur kurz in die Tasche greift, macht die ganze Chose, einmal mehr, nur lächerlich. Dann bricht die Sonne wieder hervor und Staub schlägt uns ins Gesicht.

An der Abzweigung nach Filadelfia, einer mennoitischen 5000-Seelen-Gemeinde, werde ich rausgeschmissen. Unendliche Wälder, dunkle Wolken und eine Straße, die einsam und entschlossen in den Horizont führt. Beim Anblick eines ersten Schildes, dass auch in deutscher Sprache beschriftet ist, muss ich kichern. Denn in Paraguay ist neben dem Spanischen und Guaraní (die Sprache der Indigenen Paraguays) Deutsch die dritte Sprache. Deutschstämmige Auswanderer und Mennoiten, die seit den 1920ern aus Kanada und später aus Russland hergekommen sind, sind der Grund. Der berühmteste Deutschstämmige dürfte Alfredo Stroessner sein – 35 Jahre lang Paraguays rechtsgerichteter Diktator. Mit einem Gefühl der Sehsucht folge ich der einsamen Straße, Kilometer für Kilometer. Seit langem sehe ich einen Himmel ohne Berge. Ich habe Glück und werde in einer klapprigen asiatischen Karre mitgenommen. Wilhelm heißt der aus Italien stämmige Mann, der vor 17 Jahren nach Paraguay ausgewandert ist. Er fragt nach meinen Reiseeindrücken und den Grund für meine Paraguayreise. Auf Deutsch. Es ist nicht sauber und mit einem merkwürdigen Akzent vermischt, aber ich verstehe ihn. Er fragt nach Jobmöglichkeiten in Deutschland. Er würde gerne dort arbeiten – er ist Mechaniker – und später zurück. Die Bezahlung hier sei nicht befriedigend.

Surreal ist vielleicht das richtige Wort, wo ich mich befinde. Die Hauptstraße ist breit, eben, geteert – sie hat einen grünen Mittelstreifen. Nach links uns rechts gehen Nebenstraßen, die sich in der schier endlosen Savanne verlieren. Sie scheinen am Horizont im Staub zu verbrennen. Größtenteils Menschen mit heller Haut, blondem Haar – die Männer tragen eine Frisur, wie sie in den Fünfzigern in Deutschland beliebt war – und einem mich verwirrenden Akzent grüßen mich freundlich. Die Architektur der Häuser, ihre handwerkliche Qualität erinnern mich an daheim: Die Mauern sind gerade hochgezogen, makellos verblendet. Der Ziegelstein ist rötlich, die Dachziegel vollständig, die verhaltenen Hunde haben Zwinger. Die Grundstücke sind verhältnismäßig groß. Und … alles umzäumt, selbst verwilderte Grünflächen … ich wähne mich in einem Deutschen Vorort … nur die hin und her wehenden Palmen, diese Nebenstraßen … der Staub der über die Gemeinde zieht, sowie die bolivianischen Tagelöhner und Wanderarbeiter, die richtungslos durch den Ort stromern … Es ist Sonntag. Später Nachmittag. In der Weite quietscht ein Reklameschild. Urlaub vom Reisen.

Ich finde nach langem Suchen eine Tankstelle, wo ich mir dunkles Brot, Käse und Bier kaufe. Mein Hotel ist völlig überteuert, aber das einzige hier. Es wirkt mit all seinen Arbeitern, die auf dem Hof den Abend ausklingen lassen, wie ein Motel. Ich höre das Rauschen der Straße. Warum ich dennoch hier gelandet bin? Neugier, reine Neugier. Die Reisenden haben nicht viel Gutes über Paraguay zu erzählen gewusst. Ich bin hier, um mir mein eigenes Bild zu machen …


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