Ramelow redet über Deutschland, allerdings über ein eingebildetes Deutschland. Vorlage für die jüngste Diskussionsrunde bei "Anne Will" war wiedermal ein "Tatort"-Krimi: "Jagdzeit" erzählte die abstruse Geschichte eines armen, aber fetten Mädchens, das zeugin eines Mordes an einem verbrecherischen Hungerhelfer wird, den Täter aber nicht verrät, weil sie um ihre alkoholkranke, medikamentenabhängige, arbeitslose Mutter bangt, die mit einem schweren Freiluft-Trauma zu Hause sitzt, seit Jahren.
Um zu helfen, muss das Mädchen, das aussieht wie 14, aber aus Dekogründen einen Schulranzen für Siebenjährige durch die tristen Kulissen trägt, als Altenhelferin Omas windeln. Nebenbei verkauft sie die Medikamente ihrer Mutter an eine gewalttätige Jugendgang, während die beiden Kommissare Dialektraten spielen. Das Mädchen, das "Nessie" heißt, weil es so fremd auftaucht mitten im Leben, möchte Ärztin werden, hat aber lockere Zähne wegen der Unterernährung. Ihre Mutter hat sich, weil die Kasse Zahnbehandlung für Hartz4-Empfänger nicht bezahlt, einen ausgebrochenen Zahn mit Sekundenkleber wieder in den Mund appliziert.
Deutschland, wie wir es kennen und lieben. Deutschland, wie es die halboffene Runde bei "Will" mit großer Ernsthaftigkeit diskutiert. Worüber auch sonst sollte man sprechen? Fukushima ist durch, Libyen irgendwie ja doch zu unübersichtlich, Sarrazin abgetaucht und der Champions-League-Deal des benachbarten Staatssenderkollegen ZDF viel zu nah, die Mäuler daran zu wetzen.
Also muss Fiktion als Vorlage herhalten, die Sendezeit zu füllen. Der verglichen mit "Das Schweigen der Lämmer", "Star Wars" oder "Peter und Nadine - ein deutscher Liebesfilm" in jeder Sekunde ausgedacht und comichaft wirkende Vorstadt-Film glänzte selbst nach Ansicht des halbstaatlichen Internet-Portals T-Online mit "unglaubwürdigen Charaktere, gestellt wirkenden Szenen, hölzernen Dialoge und einer vorhersehbaren Story". Aber das Drama wollte ja auch "besonders eindringlich Sozialkritik betreiben", wie die Kritik meint. Dazu ist sie da, die Krimi-Instanz der Nation, die schon im Discountersumpf wühlte, eindringlich schilderte, wie Migranten von der Gesellschaft zu Verbrechen gezwungen werden und anprangerte, welcher menschenverachtenden Ideologie ostdeutsche Hooligans huldigen.
Was ist noch Realität? Was schon Erfindung? Wie erfunden ist die Wirklichkeit? Und wie real die Erfindung?, fragte PPQ schon vor Jahren, als der inzwischen als Dokumentarfilm geltende "Tatort" Anlass war, im Fernsehgericht die Arbeitsbedingungen in deutschen Discountmärkten zu diskutieren. "Müsste die Politik da nicht mehr tun", fragt Anne Will, bekannt geworden durch ihre Rolle als Elbin Arwen in der Verfilmung des Klassikers "Herr der Ringe", einer anderen großen Kinodokumentation.
Damals war die Runde ist ratlos, diesmal kauderwelscht für den zirzensischen Spaß "Arm bleibt arm, reich bleibt reich" ein ehemaliger Profiboxer namens Charly Graf minutenlang über sein Schicksal als bettelarme Nessie. Die Männer und Frauen auf der Couch lachen an der richtigen Stellen. "Die Jugendlichen heute stehen vor denselben Problemen, herauszukommen aus ihren Zusammenhängen", fazitet Will aus dem Gemisch an echten und erfundenen Informationen, an wahren und ausgedachten Geschichten.
Bettina Cramer zum Beispiel sitzt in der Runde, weil sie sich für bedürftige Kinder engagiert. Und natürlich, weil sie ein Buch darüber geschrieben hat, wie sie mal "45 Minuten mit einem Kind gespielt hat, und das konnte nicht lachen". Bodo Ramelow schaut streng und nachdenklich, Anne will sagt, immer Geld fließe in die Sozialpolitik, aber es helfe nicht.
Rita Knobel-Ulrich, die auch schon viele Filme über Arme gemacht hat, prangert an, dass Menschen sich daran gewöhnt hätten, dass ihnen geholfen werde. In Dänemark sei das anders, wer dort nicht selbst was tue, falle aus der Unterstützung raus.
"Das dänische Model" erweckt nun Bodo Ramelow augenblicklich zum Leben. "Wir entmenschlichen die Menschen", sagt er, "wenn denn wenigstens Arbeit da wäre!" In Gera und Erfurt sei "jedes dritte Kind" unter der Armutsgrenze. "Wir scheinen in verschiedenen Realitäten zu leben", ruft Ramelow, nun schon fast mit dem berühmten gefühligen Zittern des Mitleidenden in der Stimme. "Da kann man doch nicht sagen, dass die Eltern daran schuld sind!"
"Nicht alle auf einmal, bremst Will das aufkommende Geschnatter. "Fragmentierte Armut", kommt von Ramelow noch durch. "Warum habe ich es geschafft", sagt der Ex-Arme und heutige Restaurantbesitzer Tim Raue, "weil ich gemerkt habe, wer ackert, der schafft es." Will hat einen Einspieler vorbereitet. "Strukturelle Arbeitslosigkeit", ruft Ramelow. "Warum ziehen wir nicht Geld ab", fragt der soziale Aufsteiger.
Bodo Ramelow will "ordentliche Vereine" und Ganztagesbetreuung wie damals in der DDR. Die Tätersuche spielt nun schon gar keine Rolle mehr, dabei wäre grundsätzlich zu fragen, welche gesellschaftlichen Zwänge den erfolgreichen Fotojournalisten Xaver Heindl, gespielt von Jens Atzdorn, dazu trieben, den Mann seiner prallbusigen Geliebten mit dessen eigenem Jagdgewehr zu erschießen. War es das Bildungspaket, dass es in seiner schweren Jugend noch nicht gab? War es die Streichung des Elterngeldes durch Ministerin Schröder? "Warum kann man nicht den umgekehrten Weg gehen", fragt Ramelow in diesem Bewerbungsgespräch um einen Platz in der neuen Linken-Spitze nach Lötzsch und Ernst.
Doch in der ganzen Sendung taucht niemand aus dem Jugendamt auf.
Die Erfindung der Wirklichkeit