Mit „Feuchtgebiete“, der Romanverfilmung zur gleichnamigen Veröffentlichung der Fernsehmoderatorin Charlotte Roche aus dem Jahr 2008, treffen im Kino derzeit zwei Erfolgsgeschichten aufeinander und – das muss gesagt werden – brechen in diesem Fall mit der mathematischen Regel, dass zwei positive Dinge ein negatives Ergebnis erzeugen. Als Roches Roman im Februar 2008 erschien, verzogen sich zahlreiche Gesichter. Manch einer mag das erste Buch seines Lebens abgebrochen und zur Seite gelegt haben. Mit überspitztem Ekel malträtierte die Autorin die Nerven ihrer Leserschaft, erschuf zugleich aber ein erinnerungswürdiges Stück deutscher Lektüre, ausgezeichnet als Bestseller des Jahres 2008.
Auf der anderen Seite dieser Geschichte steht Filmemacher David Wnendt, der 2011 durch seine erbarmungslos ehrliche Produktion „Kriegerin“, die von der Neonazi-Szene in Deutschland erzählt, zu vielerlei Ehren gelangt ist. Sowohl seine Regie als auch das von ihm verfasste Drehbuch erhielten zahlreiche Auszeichnungen, Hauptdarstellerin Alina Levshin wurde mit dem Bambi als beste Schauspielerin national geehrt, erhielt den Preis der deutschen Filmkritik und holte auch noch den Deutschen Filmpreis 2012 als beste Hauptdarstellerin. Wenn ein Regisseur seine Darstellerin, zugegebenermaßen ausgestattet mit reichlich Talent, zu solchen Leistungen antreibt, dann muss er prädestiniert sein, um auch Charlotte Roches rotzfreche und hygieneunbewusste Protagonistin Helen Memel zu inszenieren. Und ja, die 1985 in Locarno geborene Carla Juri in der Rolle dieser ungenierten Göre erwirkt in Kombination mit dem Regietalent Wnendt eine spannend-unterhaltsame deutsche Produktion, bei der die Ambivalenz aus Abstoßung vor Ekel und Anziehung durch Unterhaltung perfekt zur Geltung gebracht wurde.
Carla Juri als Helen
Der Ekel findet von Anfang an seinen Weg in den Film, wenn Helen vom drängelnden Stuhlgang getrieben, barfuß ein öffentliches Klo aufsucht, von dem die in Hygiene vernarrte Mutter sicherlich sofort abraten würde. Helen muss durch bräunlich-schimmerndes Wasser waten, dass sich über den Boden des Klos ausgebreitet hat, sieht sich einer Toilettenschüssel gegenüber, die nur so überzogen ist mit Keimen und Bakterien, amüsant zur Anfangssequenz zusammen animiert, so dass man sich als Zuschauer mit zuschnappenden Monstern konfrontiert sieht, während Helen schon bald ihre Vagina auf eben dieser Kloschüssel als Putztuch verwendet, weil sie genau darin die Aufgabe ihres Lebens sieht: Der Mutter beweisen, dass man auf Hygiene bewusst verzichten kann und sich dennoch keine Pilze einfängt. Solcherlei Eskapaden muss man ertragen, möchte man den Film bis zum Ende durchstehen. Eine Empfehlung, denn erst dort entfaltet sich das gesamte Potential, aus dem hervorgeht, dass das Verhalten der jungen Dame erschreckenderweise nachvollziehbar wirkt, sobald man die psychische Störung versteht, der dieses Trennungskind erlegen ist.
Das Spiel einer 18-jährigen Teenagerin gelingt Darstellerin Juri nicht unbedingt, aber man mag es ihr verzeihen. Sie imitiert die schnodderige Schnauze Charlotte Roches zwischen Perfektion und betrunken-lallend-Wirkung, verpasst ihrer Helen in ihrer Denkens- und Redensweise einen Touch von vorpubertierenden Kleinkind, um im nächsten Moment mit einem sexuellen Erfahrungsschatz aufzuwarten, der von der über 30 Jahre alten Roche persönlich stammen könnte. Dann aber legt sie dieses verschmitzte Grinsen auf, mit dem sie durch die Welt skatet, und alles ist wieder gut. Juri ist weder Roche noch irgendwer, sie ist hier Helen, wie man sie sich im wahren Leben vorstellen kann. Natürlich wirkt auf den ersten Blick alles gänzlich überzogen: Wenn Helen den Gemüsetest in der Badewanne vollzieht, den Tampontausch mit der besten Freundin ausprobiert, ihre spermagetränkte Pizzageschichte erzählt oder sich Anal auf dem Bettpfosten ihres Krankenbetts positioniert. Aber während die Geschichte hauptsächlich im Krankenhaus verortet ist, wo Helen landet nachdem sie sich unvorteilhaft bei einer Intimrasur schneidet, werden immer wieder Blicke zurück in ihre Vergangenheit geworfen, geteilt in traumatische Kindheitserinnerungen und jugendlichen Leichtsinn. Hier liegen ihre Weltanschauungen begründet, ihr Verhalten findet bei Regisseur Wnendt eine tatsächliche Daseinsberechtigung.
Helen skatet ins Krankenhaus
Und hier hört das Lob für Hauptdarstellerin Juri auf und es beginnt der Teil, bei dem Wnendt in den Fokus gerückt werden muss. Andere Regisseure hätten „Feuchtgebiete“ als Vorlage für eine abgedroschene Komödie nutzen können, mit ausreichend fäkalen Handlungssträngen geradezu eine Steilvorlage. Nun kommt aber dieser Wnendt daher und unterfüttert all diese prägnanten Ekelbilder mit einer Geschichte, mit traumatischen Erlebnissen, mit Hintergründen eines verhaltensgestörten Bewusstseins. Seine Helen flüchtet sich in schnelle Sexspielereien, flüchtet sich in selbstzerstörerische Körperexperimente, flüchtet sich in bewusst jugendlichen Wahnsinn. Sie sucht Halt, sie sucht Nähe, die sie bei ihren Eltern nicht findet. Die Mutter, so erfahren wir in einem Rückblick, ermutigt schon die kleine Helen von einer Mauer zu springen, sie aufzufangen, aber im letzten Moment die Arme herunter zu nehmen um ihre kleine Tochter auf die Knie fallen zu lassen. „Lieber jetzt ein blutiges Knie, als später einen seelischen Knacks“. Sie solle niemanden vertrauen, nicht einmal ihren eigenen Eltern. Mit solchen Erziehungsmethoden und der späteren Trennung ihrer Eltern – zuerst eher lapidar komisch, später tragisch-traurig inszeniert – musste aus Helen ein solch kaputter Charakter werden, der in seiner Eigenzerstörungswut wie eine in sich gekehrte Darstellung von Heath Ledgers Joker wirkt.
Mit „Feuchtgebiete“ ist ein Film gelungen, der die deutsche Filmlandschaft durchbricht. Auf der einen Seite Komödie, auf der anderen Seite erstzunehmendes Drama: eine Vereinbarung die es so hierzulande bisher selten gegeben hat. Kein Film der sich hinter dem Roman verstecken müsste, ganz im Gegenteil. Der Roman mitsamt seiner Autorin dürfen stolz auf diese Adaption sein, die sicherlich dazu beitragen wird, dass ein paar Menschen ihre weggelegten Romanfassungen wieder hervorkramen werden, um doch noch einmal in die Feuchtgebiete einzudringen.
“Feuchtgebiete“
Originaltitel: Feuchtgebiete
Altersfreigabe: ab 16 Jahren
Produktionsland, Jahr: D, 2013
Länge: ca. 109 Minuten
Regie: David Wnendt
Darsteller: Carla Juri, Christoph Letkowski, Axel Milberg, Meret Becker, Marlen Kruse, Peri Baumeister, Edgar Selge
Deutschlandstart: 22. August 2013
Im Netz: feuchtgebiete-film.de