Fetzend durch die Stadt

Die Welt im Rücken - Thomas Melle

Während manischen Schüben verhalte man sich noch peinlicher, noch verrückter, als es je in Filmen gezeigt und in Büchern beschrieben wurde, schreibt Thomas Melle über seine Krankheit in Die Welt im Rücken. Melle schreckt in seinem Roman jedoch nicht davor zurück, intimste und eben solche peinlichen Details preiszugeben. Offen beschreibt er, was es bedeutet, sich in einer unerschöpflichen Hochphase zu befinden und kopflos von einer verrückten Idee zur nächsten zu jagen. Um dann in die bodenlose Tiefe einer Depression zu stürzen.

Thomas Melle leidet an einer bipolaren Störung, gepaart mit Verfolgungswahn. Er selbst spricht von einer manisch-depressiven Krankheit. Ihren Anfang fand die Krankheit im Internet: Unter Namen von zeitgenössischen Autoren schreibt Melle Beiträge im Internet. Die ersten Antworten kommen und Melle verliert sich immer tiefer in der virtuellen Welt. Irgendwann findet er auch in der realen Welt Antworten, die nur ihm gelten: Songtexte sprechen zu ihm, 9/11 liegt in seiner Verantwortung, seine Feinde Springer und Daimler-Benz sind hinter ihm her. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.

„Der Maniker ist dabei naturgemäß der lauteste Krakeeler gewesen, und die Scham verdankt sich vor allem seinen hirnverbrannten Taten. Was ein Arschloch! Was ein Narr. Fetze durch die Stadt, auf der Suche nach dem nächsten Schwachsinn, noch ein peinlicher Auftritt mit Zwischenrufen, noch ein abgerissener Außenspiegel, ständig im Sprachgewirr, das nur ihn meinte, ständig angesprochen und verungimpflicht von Dingen, die nichts und alles mit ihm zu tun hatten." (S. 111)

Melles manischer Zustand dauert ungefähr ein Jahr. Dann kommt die Depression, in der er sich voller Scham bewusst wird, was er alles getan hat. Tage des Nichts kommen, in denen Melle nicht mehr weiß, wer er ist und Trost in Selbstmordforen sucht. Immer stehen ihm jedoch seine Freunde zur Seite, die ihn auch gegen seinen Willen in die Psychiatrie einweisen lassen.

Insgesamt dreimal erkrankte Melle. Von diesen drei großen manischen Schüben und tiefen Depressionen erzählt er im Roman. In den Phasen selbst springt Melle von einem Gedanken zum nächsten, um das verworrene Denken eines psychisch Kranken zu verdeutlichen. Diese Verwirrtheit schlägt sich auch in der Syntax nieder. Melle findet klare Wort für die Krankheit, doch das Gefühl, man befinde sich inmitten eines Schubs, bleibt. Die Sprache nimmt in seinen manischen Phasen an Fahrt auf, wirkt fahrig, gehetzt und völlig von Sinnen, um dann abgebremst zu werden und in eine Langsamkeit über zu gehen.

„Anders freilich der Depressive. Der liegt auf dem Scherbenhaufen und wagt nicht mehr, sich zu bewegen. Er kann sich auch gar nicht mehr bewegen. Nach dem Shutdown aller Funktionen ist jeder Tag ein Nichts, das Vegetieren reduziert sich auf den bloßen Kampf gegen den Selbstmord, der allerdings auch nicht so billig zu haben ist, denn selbst für den Abgang ist der Depressive zu gelähmt." (S. 112)

Stärken liegen auch in den Textpassagen, in denen Melle nicht nur über seine eigene Person reflektiert, sondern über Medizin und Gesellschaft. Melle fragt ganz oft nach dem Warum. Warum wird eine Person manisch-depressiv? Dafür geht er bis in seine Kindheit zurück, ohne sie zu verklären, und schiebt medizinisches Wissen ein. Wie geht die Gesellschaft mit Manisch-Depressiven um, welches Bild wird von ihnen in Literatur und Film vermittelt? Dazu zählt das, das er in Die Welt im Rücken vermittelt:

„Nur: Ich lebe unter Medikation. Und ich schreibe unter Medikation. Das wandert in die Sätze ein, das dringt bis in ihre Struktur hinunter. Das hemmt die Wortwahl. [...] Die Medikation, so die gängige Formulierung, kappt sie Spitzen, oben und unten, im Leben wie im Schreiben. Das sorgt für Nüchternheit, stellt einen Widerstand auf, den ich überwinden muss, um überhaupt etwas zu sagen. Und die Medizin hat noch die letzte Nervenfaser im Griff." (S. 299)

Die Welt im Rücken ist ein beeindruckender Roman, in dem es Melle gelingt, eine schwer greifbare Krankheit durch seine klaren Worte erfassbar zu machen. Für den Deutschen Buchpreis hat es leider nicht gereicht, doch Melles Werk wird noch lange nachhallen.

Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt. 347 Seiten. 19,95 Euro.


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