“Ferdinand Lassalle und seine Zeit”
ein Gastbeitrag von Wilma Ruth Albrecht
„Lassalle, Ferdinand, 1825–1864, Gründer der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland und Schriftsteller. Lassalle – in Berlin als Student das „Wunderkind“ genannt – nahm aktiv an der Revolution 1848 teil und war stark von Hegel, Marx und Rodbertus beeinflusst, wich aber in einigen Punkten von diesen ab. Die wichtigste Abweichung von Marx war, dass er ein evolutionäres Konzept für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus entwickelte. Lassalle formulierte das eherne Lohngesetz.“
(Wirtschaftslexikon.Gabler)
Ferdinand Lassalle, Begründer der einsmals sozialdemokratischen Bewegung – Zeichnung: © W.R. Albrecht
Die Auseinandersetzung mit Lassalle bildet/e einen der Hauptpunkte der Kritik von Karl Marx am Gothaer Programm (1875). Friedrich Engels betonte:
“Zum ersten Mal wird hier die Stellung von Marx zu der von Lassalle seit dessen Eintritt in die Agitation eingeschlagenen Richtung klar und fest dargelegt, und zwar sowohl was die ökonomischen Prinzipien wie die Taktik Lassalles betrifft.”(1)
Politische Agitatation
Als Lassalle seine politisch-agitatorische Tätigkeit – nach über einem Jahrzehnt Privatleben – wieder aufnahm, befand sich Deutschland “im Übergang zur zweiten Periode des deutschen Kapitalismus.”(2)
Diese Periode 1851-1860 war gekennzeichnet durch einen raschen Aufschwung der kapitalistischen Produktion. So stieg beispielsweise “die deutsche Industrieproduktion von 1841 bis 1850 um mehr als das Doppelte. Eine solche Erhöhung der Industrieproduktion in so kurzer Zeit hat es während des ganzen 19. Jahrhunderts und auch später nicht mehr gegeben … und gleichzeitig sehen wir, daß die Produktion von Kapitalgütern, von Produkten der Schwerindustrie stärker zunimmt als die von Konsumgütern.”(3)
Zwar blieb die Industrieproduktion noch hinter der Englands zurück, sie übertraf jedoch Ende der fünfziger Jahre schon Frankreich.(4)
Entsprechend der Erstarkung des Kapitalismus entwickelte sich die Bourgeoisie zur ökonomisch stärksten Klasse in Deutschland. Gleichzeitig fand die Umwandlung der halbfeudalen Produktionsverhältnisse statt. Dabei gelang es den Junkern und adligen Grundbesitzern ihre Machtstellung durch Vergrößerung ihrer Güter und Einbeziehung neuer Arbeitsmittel auf Kosten der Bauern zu stabilisieren und auszubauen.(5)
Trotz des großen Wachstums der Industrieproduktion gehörte nur ein kleiner Teil der Arbeiter zu den Industriearbeitern; der Großteil war in der Landwirtschaft und in der Hausindustrie tätig. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen der Zeit ist, daß gegen Ende der fünfziger Jahre sich der Übergang von extensiven zu intensiven Ausbeutungsmethoden in der kapitalistischen Produktion durchsetzte. Entsprechend dieser sich herausbildenden und verstärkenden antagonistischen Klassengegensätze kommt es wie – auch in anderen kapitalistischen Ländern – zu Kampfmaßnahmen der Arbeiter.
“Von 1852 bis 1859 führten die deutschen Arbeiter über 100 Streikkämpfe. In diesen Jahren wurde fast die Hälfte aller Streiks durch Eingreifen der Polizei unterdrückt.”(6)
Auch kam es zu weiteren Organisationsbestrebungen der Arbeiter, obwohl der “Bund der Kommunisten” 1852 brutal aufgelöst wurde und die politische Reaktion alle sozialistischen und politischen Organisationsbestrebungen der Arbeiter unterdrückte.
“Insgesamt sind aus den fünfziger Jahren über 800 örtliche Arbeitervereine bekannt geworden, die längere oder kürzere Zeit bestanden. Einer Reihe von Fachvereinigungen gelang es, von Ort zu Ort Verbindungen zu halten. Dazu gehörten die Organisationen der Zigarrenmacher und der Buchdruckergehilfen, die sich schon während der Revolution von 1848/9 im nationalen Maßstab zusammengeschlossen hatten. Aus ihnen gingen in den sechziger Jahren die ersten beiden neuen gesamtnationalen Gewerkschaftsverbände hervor.”(7)
Weiterhin bestanden auch illegale Gruppen von Mitgliedern des Bundes der Kommunisten, dies besonders im Rheinland (Barmen, Elberfeld, Düsseldorf, Solingen, Köln), Göttingen und Mainz.(8)
Auch agitierten die vor und während der 48er Revolution entstandenen traditionellen demokratischen Organisationen wie Turn-, Wehr-und Schützenvereine weiter.
“Bis 1862 entstanden 1.284 Turnvereine. 55 Prozent ihrer Mitglieder waren Handwerker, 14 Prozent Arbeiter und Bauern, die übrigen Kaufleute, Lehrer, Studenten und Schüler.”(9)
Mit dem Aufschwung des Kapitalismus in Deutschland, den offensichtlich zum Ausdruck kommenden Klassengegensätze und den erkennbaren Organisationsbestrebungen der Arbeiter versuchten die reaktionären Kräfte und die Bourgeoisie diese Bewegung – nachdem festgestellt wurde, dass sie nicht rückgängig gemacht und unterdrückt werden konnte – unter ihre Kontrolle zu bekommen.
Eine dieser frühen Organisationen, in denen sich Unternehmer, bürgerliche Intellektuelle und höhere Staatsbeamte zusammenfanden und die den Zweck verfolgen sollten, “eine Organisation gegen die Selbständigkeitsbestrebungen der Arbeiterklasse” darzustellen, war der “Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen” (ZWAK, 1844 bis 1914):
“Der ZWAK konzentrierte sich in den sechziger Jahren in seiner sozialpolitischen Tätigkeit auf die Förderung der Volksbildung und die Propagierung des Genossenschaftsvereins für Arbeiter und Handwerker im Sinne der Vorstellungen von H. Schulze-Delitzsch. Er vertrat in seinen Publikationen die These des wirtschaftlichen Liberalismus, die ´soziale Frage´ sei dadurch zu lösen, daß die Arbeiter durch Bildung, Sparsamkeit und genossenschaftlichen Zusammenschluß zu Eigentümern und eventuell sogar zu Kapitalisten aufsteigen könnten. H. Schulze-Delitzsch wurde für einige Jahre zum wichtigsten Ideologen des ZWAK.”(10)
Ende der 1850er Jahre im Zuge der ersten zyklischen Krise in Deutschland 1857 -1859 bahnte sich auch eine neue öffentliche politische Bewegung an. Die in der 1848er Revolution zum Ausdruck brechenden Widersprüche konnten trotz umfangreicher Unterdrückungsmaßnahmen nicht überdeckt werden. Die wirtschaftlich erstarkte Bourgeoisie verlangte politische Änderungen: Sie forderte die Aufhebung der staatlichen Zersplitterung, die Aufhebung der feudalen Privilegien und die Bildung eines einheitlichen Nationalstaates. Um ihre Interessen zu propagieren und durchzusetzen gründete sie 1859 den Nationalverein. Dieser zählte bis 1862 rund 25.000 Mitglieder und versuchte sich unter den Arbeiterbildungsvereinen einen Resonanzboden zu schaffen, was ihm mit Hilfe des Demagogen Schulze-Delitzsch auch weiterhin gelang.
Weitere Anstöße für die zunehmende öffentliche Politisierung in Deutschland waren außer der Krise 1857-1859 die hundertjährigen Schiller-Feiern (1859), die außenpolitischen Ereignisse der Einmischung Napoleons III. in den italienisch-österreichischen Krieg (1859) und der Heereskonflikt in Preußen (1862).
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß zu der Zeit, als Lassalle die öffentliche politische Bühne betrat, bestimmte entscheidende Voraussetzungen für die Arbeiterschaft gegeben waren, um sich in Deutschland eigenständige ökonomische und politische Organisationen zu schaffen.
Lassalle-Broschüre (1864) – Abbildung: © public domain / gemeinfrei
Arbeitervereine und „Vorwärts“
Am 6. März 1862 wurden in Preußen das Preußische Abgeordnetenhaus aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben. Anlaß dazu war die Verweigerung der Zustimmung der Liberalen zu der Heeresvorlage der Regierung, die eine Stärkung des preußischen Militarismus bezweckte. Überall im Lande begann die Wahlagitation. Es entwickelte sich dabei ein Aufschwung der Volksbewegung: Seit dem Sommer kam es auch zu Arbeiterversammlungen.
Die Bourgeoisie versuchte die Bewegung, insbesondere die Arbeiteremanzipationsbewegung unter ihre Kontrolle zu bringen und bediente sich dabei des Nationalvereins. Dieser beschloss im April 1862 zwölf deutsche Arbeiter auf Kosten des Vereins nach London, vor allem zum Studium der englischen Arbeiterwohlfahrtsvereinigungen, zu schicken. Zu diesem Zweck stellten Max Wirth und die Redaktion des “Arbeitgeber” in Frankfurt 2.400 Gulden zur Verfügung.(11)
Durch die Berichte der Englandbesucher angeregt kam es im August 1862 zur Wahl eines Zentralkomitees zur Einberufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses, der so genannten Kongressbewegung. In diese Bewegung schalteten sich schon früh bürgerliche Intellektuelle und Demagogen wie Schulze-Delitzsch, Faucher und Max Wirth ein. So wurde beispielsweise in dem Aufruf zum Arbeiterkongreß in der Berliner Volkszeitung als Tagesordnungspunkte benannt: “die Einführung von Gewerbefreiheit und Freizügigkeit (…), die Beratung von Arbeitergenossenschaften und die Betreibung einer Weltausstellung …”(12)
Doch im Bestreben “eine Verständigung der Arbeiter ganz Deutschlands … herbeizuführen lag die Tendenz zur organisatorischen Verselbständigung und nationalen Vereinigung des Proletariats.”(13) So spaltete sich beispielsweise unter der Führung des Zigarrenmachers Friedrich Wilhelm Fritzsche, des Schuhmachergesellen Julius Vahlteich und des Chemikers Otto Dammer aus dem “Gewerblichen Arbeiterbildungsverein” ein auf die Interessen der Arbeiter orientierter Verein, der “Vorwärts” in Leipzig ab: “er wies von vornherein eine radikalere politische und soziale Note auf.”(14)
In diesen turbulenten Tagen warf sich Lassalle in die Politik. Am 12. April 1862 hielt er vor dem Berliner Handwerkerverein in Oranienburg seinen bekannten Vortrag “Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes”, das so genannte “Arbeiterprogramm”. Karl Marx kritisierte die Schrift gegenüber Engels: “Du weißt, daß die Sache nichts ist als schlechte Vulgarisierung des ´Manifests´ und anderer von uns oft gepredigter Sachen, daß sie gewissermaßen schon Gemeinplätze geworden sind.”(15)
Daneben hielt Lassalle auch noch einen Vortrag vor drei Kleinbürgervereinen über “Verfassungswesen”. Beim Versuch Lassalles sein “Arbeiterprogramm” zu publizieren (etwa in Höhe von 3.000 Exemplaren) wurde er Ende Juni 1862 angeklagt. Er soll (laut Anklageschrift) “die besitzlosen Klassen zum Haß und zur Verachtung gegen die Besitzenden öffentlich aufgereizt […] haben.”(16)
Diese Schrift Lassalles wurde bis auf wenige Exemplare eingezogen. Doch der Zufall wollte es, daß eine der Schriften dem Leipziger Arbeiterverein “Vorwärts” zukam. Daraufhin traten die Vorstandsmitglieder des Vereins in Kontakt zu Lassalle, in der Hoffnung, “einen Mann gefunden zu haben, der ein wissenschaftlich gegründetes Programm für die Arbeiterbewegung formulieren konnte”(17), und gleichzeitig der Schulze-Delitzschen Demagogie erfolgreich entgegentreten könne. (18)
Während Lassalle, in seinem gerichtlichen Prozeß verstrickt, sich seiner Verteidigung widmete(19) und trotzdem zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde, erhielt er vom Leipziger “Vorwärts” die Aufforderung, seine politischen Vorstellungen und sein Programm für die Arbeiterschaft zu formulieren.
Daraufhin verfasste Lassalle als das so genannte “Arbeitermanifest” sein “Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins”(20) und hielt am 16. April 1863 vor den Leipziger Arbeitern seine Vortrag “Zur Arbeiterfrage”.
Inzwischen wurde die Idee des Arbeiterkongresses weiterentwickelt und konkretisierte sich zur Gründung eines überregionalen Arbeitervereins.(21) Lassalle beauftragte am 14. April 1863 Georg Herwegh ein Gedicht für den Gründungskongreß zu schreiben, außerdem redigierte er das “Statut des Deutschen Arbeitervereins”. Am 23. Mai kam es zur Gründung des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” (ADAV) und Lassalle wurde zu dessen erstem Präsidenten mit fast unumschränkten Vollmachten auf fünf Jahre gewählt:
“Zu der Gründungsversammlung im Pantheon waren elf Delegierte und einige Ehrengäste erschienen, die die bisher isoliert voneinander wirkenden Gruppen fortgeschrittener Arbeiter in Barmen, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt (Main), Hamburg, Harburg, Köln, Leipzig, Mainz und Solingen vertraten; außerdem waren einige hundert Leipziger Arbeiter anwesend. Als Delegierte gehörten zu den Mitbegründern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Jakob Audorf, Otto Dammer, Friedrich Wilhelm Fritzsche, Wilhelm Heymann, Hugo Hillmann, Friedrich Robert Lässig, Gustav Levy, August Perl, Franz Jakob Schöppler, Julius Vahlteich und Theodor Yorck.”(22)
Mit Lassalles Tätigkeit für und im ADAV begann erneut seine umfangreiche agitatorische Tätigkeit, die er vorher nur sporadisch wahrgenommen hatte.
Im Mai 1863 besuchte er die Abeitervereine des Rheingaus und im September unternahm er eine spektakuläre Vortragsreihe im Rheinland, die ihn nach Elberfeld, Barmen, Solingen und Düsseldorf führte. Dort kam es zu Massenveranstaltungen: in Düsseldorf fanden sich 800, in Barmen 3.000, in Solingen sogar 10.000 Menschen ein.(23)
Hinzu kam, dass auf diesen Versammlungen auch die ersten Provokationen und Störungen der Arbeiterversammlungen stattfanden, so auch später im Oktober 1863 in Berlin.(24) Das wichtigste Ereignis des Jahres 1864 war neben einer weiteren Rheinlandagitationsreise(25) die Gründung der Zeitung “Der Sozialdemokrat”, deren erste Ausgabe erst nach dem Tode Lassalles am 15. Dezember 1864 erschien.
Lassalle stand während seiner gesamten Tätigkeit im ADAV in Verbindung mit dem (seit 1862 amtierenden) Ministerpräsidenten von Preußen, Bismarck, mit dem er vier längere Unterredungen hatte. Lassalles agitatorische und politische Tätigkeit läßt sich hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit insgesamt in drei Aspekten zusammenfassen:
– 1. Lassalle war nicht der allgemeine Begründer der organisatorischen Arbeiterbewegung oder Initiator der sich vom Bürgertum befreienden politischen Arbeitervereine. Diese geschichtlich notwendige Emanzipation der organisierten Arbeiterbewegung hätte auch ohne Lassalle stattgefunden;
– 2. Lassalle spielte eine wichtige Rolle in der sich historisch vollziehenden Emanzipation der Arbeiterbewegung und konkret in der Auseinandersetzung mit bürgerlichen Demagogen und kleinbürgerlichen Philistern (vor allem mit dem als Begründer des deutschen Genossenschaftswesens geltenden Hermann Schulze-Delitzsch [1808-1883]);
-3. Lassalles Initiativen zur Gründung eines selbständigen Presseorgans der organisierten Arbeiterbewegung – “Sozialdemokrat” – waren und sind historisch verdienstvoll.
Staatssozialismus
Als negative und Schattenseite Lassalles werden von marxistischer Seite und am klarsten von Marx selbst Lassalles opportunistischer Staatssozialismus und sein Sektierertum dargestellt:
“D´abord, was den Lassalleschen Verein betrifft, so war er gestiftet in einer Zeit der Reaktion. Nach fünfzehnjährigem Schlummer rief Lassalle – und dies bleibt sein unsterblicher Verdienst – die Arbeiterbewegung wieder wach in Deutschland. Aber er beging große Fehler. Er ließ sich zu sehr durch die unmittelbaren Zeitumstände beherrschen. Er machte den kleinen Ausgangspunkt – seinen Gegensatz gegen einen Zwerg wie Schulze-Delitzsch – zum Zentralpunkt seiner Agitations-Staatshilfe gegen Selbsthilfe. Er nahm damit nur die Parole wieder auf, die [Philippe] Buchez, der Chef des katholischen Sozialismus, 1843 sqq., gegen die wirkliche Arbeiterbewegung ausgegeben hatte. Viel zu intelligent, um diese Parole für etwas andres als ein transitorisches pis-aller [vorübergehenden Notbehelf] zu halten, konnte er sie nur durch ihre unmittelbare (angebliche) practicability rechtfertigen. Zu diesem Behuf mußte er ihre Ausführbarkeit für die nächste Zeit behaupten.
Der “Staat” verwandelte sich daher in den preußischen Staat. So wurde er zu Konzessionen an das preußische Königtum, die preußische Reaktion (Feudalpartei) und selbst die Klerikalen gezwungen. Mit der Buchezschen Staatshilfe für Assoziationen verband er den Chartistenruf des allgemeinen Wahlrechts. […] Er gab ferner von vorneherein […] seiner Agitation einen religiösen Sektencharakter. […] Er verleugnete ferner, eben weil Sektenstifter, allen natürlichen Zusammenhang mit der frühern Bewegung in Deutschland wie im Ausland. Er fiel in den Fehler [Pierre-Joseph] Proudhons, die reelle Basis seiner Agitation nicht aus den wirklichen Elementen der Klassenbewegung zu suchen, sondern letzterer nach einem gewissen doktrinären Rezept ihren Verlauf vorschreiben zu wollen.(26)
Philosophische Positionen und „Erbe“-Diskussion
Die scharfe Kritik, die an verschiedenen Stellen von den Klassikern des Marxismus an Lassalle geübt wurde – Marx und Engels waren mit Lassalle persönlich gut bekannt, standen zeitlich verschiedentlich in regem Briefwechsel mit ihm und besuchten sich auch persönlich -, läßt es berechtigt erscheinen, dass Lassalle sozialdemokratischerseits und bedarfweise historisch, politisch und ideologisch vereinahmt wurde und wird. Dabei wurde (etwa von Carlo Schmid[27]) und wird Lassalle typischerweise zur Rechtfertigung staatsinterventionistischer Interessenpolitik bemüht.
Da möchte ich widersprechen dürfen: Jedwede Vereinnahmung Lassalles für heutige (rechts-) sozialdemokratische Politik halte ich für ungerechtfertigt. Richtig ist: Lassalle war kein historischer und dialektischer Materialist, sondern philosophischer Idealist, der Fichtes und Hegels Philosophie nahestand. Richtig ist weiter, daß dies Lassalles Haltung zur Arbeiterklasse beeinflusste.
Lassalle betrachtete (an Fichte angelehnt) Geschichte als eine Entwicklung zur Freiheit des Menschengeschlechts: “Der Zweck des Erdenleben der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit der Freiheit nach der Vernunft ausrichte.”(28)
Diese Befreiung des Menschengeschlechts verkörpert nach Lassalle allein die Arbeiterklasse:
“Dieser vierte Stand, in dessen Herzfalten daher kein Keim einer neuen Bevorrechtigung mehr enthalten ist, ist eben deshalb gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht. Seine Sache ist daher in Wahrheit die Sache der gesamten Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft ist die Herrschaft aller.”(29)
Allerdings modifiziert Lassalle Fichte in zweierlei Hinsicht: zum einen in dem er Fichtes Volksbegriff mit dem der Arbeiter gleichsetzte; zum anderen, indem er Fichtes eigene Relativierung, nämlich dass dort, wo es noch nicht zur Selbstverwirklichung des Volkes gekommen sei, der Staat als “Zwangsstaat” auftreten solle und dürfe, um ”die Erziehung aller zur Einsicht vom Rechte” die Selbstverwirklichung des Volkes durchzusetzen und sich selbst überflüssig zu machen(30), aufhebt und dies zum allgemeinen sittlichen Zweck des Staates verabsolutiert:
“Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, d.h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirklichen Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit.”(31)
Doch der Staat unternimmt diese seine sittliche Pflicht nicht von sich selbst heraus, sondern er muss dazu gezwungen werden. Deshalb müssen die Arbeiter über das zu erkämpfende allgemeine Wahlrecht Einfluß auf das Parlament und somit den Staat erlangen und ihn dazu zwingen, das allgemeine Wohl des Arbeiterstandes durchzusetzen. [Die Voraussetzung dazu sah Lassalle in den Arbeiterassoziationen.] Lassalle forderte den Staatsinterventionismus, aber – und dies ist der große Unterschied zur heutigen Sozialdemokratie – zugunsten und zum Wohl der arbeitenden Klassen.
In diesem Sinn polemisierte Lassalle gegen seine bürgerlichen Kritiker:
“Aber freilich, j e n e Intervention des Staates fand im Interesse der reichen und begüterten Klassen der Gesellschaft statt, und da ist sie freilich ganz zulässig und immer zulässig gewesen! Nur allemal, wenn es sich um eine Intervention zugunsten der Not leidenden Klassen, zugunsten der unendlichen Mehrheit handelt – dann ist sie reiner Sozialismus und Kommunismus!”(32)
Marx und Engels kritisierten nicht Lassalles Forderung nach Staatsintervention zugunsten der arbeitenden Klassen als solche, sondern den Zeitpunkt, zu dem Lassalle sie vortrug; und sie bezweifelten die historisch konkreten Bedingungen ihrer Verwirklichung in Preußendeutschland unter der Knute der ihnen verhaßten „preußischen Hunde in Berlin“.
Dagegen unterschätzte Lassalle – wie alle vergangenen und gegenwärtigen scheinradikalen Kräfte mit ihren “Alles oder Nichts“-Forderungen – einerseits die Bedeutung demokratischer Massenkämpfe und verkannte andererseits die strategische Bedeutung politischer Bündnisse. Stattdessen rannte Lasssalle frontal gegen die Bourgeoisie an oder glaubte sie – wie die gesamte politische Reaktion -“überlisten” zu können, beispielsweise durch seine Unterredungen mit Bismarck.
Zum demokratischen „Erbe“ lässt sich zusammenfassend sagen: Lassalles persönliches Handeln und sein politisches Wirken waren in der politischen Hauptorientierung gegen die Herrschaft der bürgerlichen Klasse gerichtet. Auch wenn Lassalle in wichtigen politischen Fragen opportunistische ideologische Vorstellungen in die deutsche Arbeiterbewegung hineintrug, unterstützte und förderte er in der konkret-historischen Form die organisierte Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft und trat für die Erhaltung und Ausweitung des politischen Einflusses der Arbeiterklasse ein.
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Quellen – weiterführende Links
Zeichnung © W.R. Albrecht
1 Friedrich Engels: Vorwort zu Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms [1875]. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Berlin 1968, Band 2, S. 7
2 Jürgen Kuczynski: Die Bewegung der deutschen Wirtschaft von 1800 bis 1946. 16 Vorlesungen. In: Volk und Forschen. Beträge zur Einführung in die Wissenschaft der Gegenwart. Berlin/Leipzig 1947, S. 76
3 Kuczynski: ebenda, S. 71
4 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band 1. Kapitel II (Periode von 1849 bis 1871), Berlin 1966, S. 25
5 „Nach Abschluß der so genannten Regulierungen, um die Mitte der sechziger Jahre, besaßen in Preußen 18.000 Großgrundbesitzer 60 Prozent, 400.000 größere Bauern 35 Prozent und 1,6 Millionen Kleinbauern nur 5 Prozent des Bodens.“ (Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 23f.)
6 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 28
7 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 28f.
8 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 29
9 Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8. Berlin 1974, S. 60
10 S. Schmidt/E. Czichy: Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen (ZWAK) 1844 bis zum ersten Weltkrieg. In: Die Bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945. Bd.II, Berlin 1968, S. 872-876, zitiert S. 874
11 Hermann Oncken: Lassalle [= Politiker und Nationalökonomen 2]. Stuttgart 1904, S. 226
12 Oncken: Lassalle, S. 227
13 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 45
14 Oncken: Lassalle, S. 228
15 Marx an Engels vom 28. Januar 1863. In: Marx-Engels-Werke (= MEW), Band 30, S. 322
16 Ferdinand Lassalle; Nachgelassene Briefe und Schriften. Hg. Gustav Mayer. Stuttgart/Berlin 1921-1925,sechs Bände, Band 5, S. 68
17 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 46
18 „Anscheinend damals war es, dass sie [Vahlteich, Fritzsche, Dammer -WRA] auch den Führern des Fortschritts und des Nationalvereins zwei bestimmte Forderungen vorlegten: Aufnahme des allgemeinen Wahlrechts in das Fortschrittsprogramm und Zahlung der Mitgliederbeiträge für den Nationalverein in Monatsraten, um den Arbeitern den Beitritt zu ermöglichen. Schulze-Delitzsch wäre für die Bewilligung der ersten Forderung gewesen, doch von Unruh als Direktor eines Industrieunternehmens weniger an der politischen Emanzipation des Arbeiterstandes interessiert, widersprach; in der zweiten Frage erteilte Schulze (in der Leipziger Versammlung) die wohlmeinende aber nichts sagende Antwort, die Arbeiter möchten sich als die Ehrenmitglieder des Nationalvereins betrachten. “ (Oncken: Lassalle, S. 229)
19 Lassalle schrieb zu seiner Verteidigung „Die Wissenschaft und die Arbeiter. Eine Verteidigungsrede vor dem Berliner Kriminalgericht.“
20 Lassalles Programmschrift wurde in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt und ausgeliefert. Zustimmung zu diesem Programm kam von den Arbeitervereinen aus Hamburg, Düsseldorf, Solingen, Eberfeld, Köln.
21 „Auf der Leipziger Arbeiterversammlung am 24. März 1863 wurde anstelle des bisherigen Zentralkomitees zur Durchführung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses ein Komitee zur Gründung eine deutschen Arbeitervereins gewählt, dessen programmatische Grundlage das ´Offene Antwortschreiben´ bilden sollte.“ (Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 48)
22 Ebenda S. 48f.
23 Vgl. Rheinische Rede: Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag. Drei Symptome des öffentlichen Geistes (20., 27. [und] 28. September 1863)
24 „An die Arbeiter Berlins“. Die erste öffentliche Veranstaltung des ADAVs fand am 22. November 1863 statt.
25 „Die Agitation des ADV und das Versprechen des Königs von Preußen“ gehalten am 13. Mai in Düsseldorf, am 14. Mai in Solingen und Barmen, am 15. Mai in Köln, am 16. Mai in Duisburg, am 18. Mai in Wermelskirchen und am 22. Mai „Ronsdorfer Rede in Ronsdorf“ (Ferdinand Lassalle: Reden und Schriften. Mit einer Lassalle-Chronik. Hg. Friedrich Jenaczek. München 1970, S. 515)
26 Karl Marx an Johann Baptist von Schweitzer in Berlin (Entwurf) 13. Oktober 1868. In: Marx-Engels-Werke, Band 32, S. 568f. [Ergänzungen in dieser Klammer WRA]
27 “Der Geist Lassalles wurde zwar aus den Programmschriften vertrieben, aber in der konkreten Alltagspolitik der Partei hat er sich mächtig ausgebreitet …” (Carlo Schmid: Ferdinand Lassalle und die Politisierung der deutschen Arbeiterbewegung. In: Archiv für Sozialgeschichte, 3 /1963, S. 6)
28 J. G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05). Bei Lassalle heißt es: „Die Geschichte, meine Herren, ist ein Kampf mit der Natur, mit dem Elend, der Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht im Auftrag der Geschichte auftrat. Die fortschreitende B e s i e g u n g dieser Machtlosigkeit – das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt.“ (in: „Arbeiterprogramm“; zitiert nach Lassalle: Reden und Schriften. Hg. Jenaczek, S. 56)
29 Lassalle, „Arbeiterprogramm“, zitiert ebda. S. 49
30 Ferdinand Lassalle: Fichtes politisches Vermächtnis und die neuste Gegenwart (1860). In: Ferdinand Lassalle: Gesamtwerke. Hg. E. Blum. Band 3: Ferdinand Lassalles politische Reden und Schriften. Leipzig o. J., S. 252-280
31 Lassalle, „Arbeiterprogramm“, zitiert nach Jenaczek, S. 57
32 Lasalle, „Arbeitermanifest“, zitiert nach Jenaczek, S. 191
Erstdruck: soziologie heute, 5. Jg. 2012, Heft 26, S.34-37. Hier mit freundlichem Einverständnis von Autorin und Redaktion netzveröffentlicht.
Wilma Ruth Albrecht ist Sozial- und Sprachwissenschaftlerin (Lic; Dr.rer.soc.) mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur-, Architektur- und Politikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Buchveröffentlichungen: Bildungsgeschichte/n (2006) – Harry Heine (2007) – Nachkriegsgeschichte/n (2008) – Pfalz & Pfälzer. Lesebuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (2014). Die Autorin arbeitet derzeit an ihrem Romanprojekt zum letzten ´kurzen´ Jahrhundert – EINFACH LEBEN – ePostadresse -> dr.w.ruth.albrecht@gmx.net